Beyto

Liebe und Familie im Kulturen-Clinch: Gitta Gsell erzählt im Film «Beyto» von drei jungen Menschen im Clinch zwischen Hetero- und Homosexualität und zwischen der Kultur des Islam und des Westens: ein gelungenes, unterhaltsames und aufklärendes Melodrama. – Ab 22. April im Kino
Beyto

Das Liebespaar Mike und Beyto (v. l.)

«Die Thematik ist jederzeit aktuell: Menschen im Clinch zwischen verschiedenen Kulturen und Lebensentwürfen. Das Handeln der eingewanderten Eltern, die sich nicht so schnell an eine neue Kultur anpassen können, kann man nachvollziehen. Ebenso versteht man den Sohn Beyto, der in der Schweiz aufgewachsen ist, eine völlig andere Kultur kennengelernt hat und selbst bestimmen möchte, mit wem er sein Leben verbringt.» So führt die Regisseurin Gitta Gsell ihren Spielfilm «Beyto» ein.

Beyto ist ein talentierter Schwimmer, ein motivierter Lehrling, ein cooler Kumpel, steht mitten im Leben und hat eine rosige Zukunft vor sich. Eigentlich. Doch als sich der einzige Sohn türkischer Einwanderer in seinen Schweizer Trainer Mike verliebt, bricht die heile Welt dieser Familie zusammen. Schockiert und beschämt sehen seine Eltern nur einen Ausweg: Beyto muss heiraten und damit ihre Tradition und Ehre bewahren. Sie locken ihren Sohn in ihr Heimatdorf und planen, ihn dort mit Seher, seiner Freundin aus Kindheitstagen, zu verheiraten. Plötzlich befindet sich Beyto nun in einer höchst kritischen Dreiecksbeziehung: Wie kann er zu Mike zurückfinden, ohne Seher ihre Zukunft zu rauben? Wie kann er Seher heiraten, ohne Mike von sich zu stossen? Subtil, sinnlich und unterhaltsam erzählt die Regisseurin mit aufgestellten Darstellerinnen und Darstellern die Liebesgeschichte der drei jungen Menschen.

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Mutter und Vater von Beyto mit Braut Seher

Aus einem Statement von Gitta Gsell

Beyto ist eine filmische Adaption des Buches «Hochzeitsflug» von Yusuf Yesilöz. Seine Romane kenne ich seit Langem. Bei diesem Werk hatte ich sofort das Gefühl, dass sich der Stoff für einen Film eignet. Ich habe damals Jugendliche unterrichtet und einerseits den Slang mit miesen, ausgrenzenden Schimpfworten hautnah mitbekommen und anderseits die Problematik erlebt, der Jugendliche mit Migrationshintergrund ausgesetzt sind. Bei jeder Figur ist ihre Lebenshaltung verständlich. Die Eltern möchten ihre Tradition aus dem kleinen türkischen Dorf auch in der Schweiz weiterleben. Sie träumen von den trockenen Hügeln Anatoliens und verschliessen sich gegen die Einflüsse der modernen Schweiz. Beyto ist hin- und hergerissen zwischen türkischer Kultur und schweizerischer Lebensart und sucht einen Weg zwischen dem Familienzusammenhalt zu Hause und den Freiheiten der westlichen Welt.

«Beyto» beleuchtet ein aktuelles Problem. Die von den westlichen Gesellschaften über Jahrhunderte erkämpfte Freiheit und Toleranz werden durch Migranten patriarchalischer Gesellschaften relativiert. Der Film thematisiert dieses Spannungsfeld ohne Schuldzuweisung. Dabei geht es um individuelle Lebensmuster, die sich innerhalb des Spannungsbogens von Normen, Ideologien und Wertvorstellungen behaupten. Er ist die Geschichte eines jungen türkischen, stellvertretend auch anderen jungen und älteren Menschen, die ein eigenes Leben führen möchten. Beyto hat Angst, die Erwartungen der Eltern nicht zu erfüllen. Er lebt wie viele in unserer Zeit ein Doppelleben.

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Das Brautpaar mit den Eltern von Seher

Die Familie in Ordnung bringen ...

Beyto, der Stolz seiner Eltern, schreibt gute Noten, macht keine Schwierigkeiten und hilft im elterlichen Dönerladen. Seine grosse Leidenschaft ist das Schwimmen, womit die Eltern zwar wenig anfangen können. Doch solange seine Ausbildung nicht darunter leidet, dulden sie es. Er verkehrt mit Freunden im türkischen und schweizerischen Umfeld. Doch für die Einwandererfamilie ist eines klar: Ihr Sohn soll es einmal besser haben als sie. Diese Hoffnung wird durch die Liebe zu Mike zerstört, was Probleme schafft: Etwas verliert er immer, entweder den Rückhalt in seiner Familie oder sein Ich als freiheitsliebender, toleranter Schwuler. Unbestritten sind solche und ähnliche Konflikte heute für viele Menschen in einer Welt, bei der im Rahmen der Globalisierung und der Völkerwanderungen die verschiedensten Kulturen aufeinanderprallen, in diesem Film die eines konservativen Islam und eines liberalen Westens, der Moderne und der Tradition. 

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Seher und Beyto in der Hochzeitsnacht

... oder Menschen die Freiheit geben?

Auch wenn Beyto am Anfang die Beziehung zu Mike vor seinen Eltern verheimlichen kann, machen erste Gerüchte bald die Runde. Der eigene Sohn schwul! Was wird man im Dorf sagen? Schnell ist für die Eltern klar: Dem Sohn muss der Kopf zurechtgerückt, er muss auf den «rechten» Weg» geführt, die «Familie muss in Ordnung» gebracht und die Ehre wiederherstellt werden. In aller Eile wird für die inszenierte Hochzeit eine Reise in die Türkei organisiert, ein manipuliertes Unternehmen, um die konservativen Familien- und Moralwerte durchzusetzen.

Als Beyto, Seher und die ganze Familie nach der äusserlich festlichen, innerlich zwiespältigen Hochzeitsfeier den Konflikt der Verleugnung nicht mehr aushalten, wird von der Familie entschieden, gemeinsam in die Schweiz zu reisen. Mit Beytos Eltern reisen die Frischverheirateten in die Schweiz, wo auch Seher Möglichkeit bekommen soll, zu lernen und zu arbeiten. Doch in Tat und Wahrheit schafft auch dieses Unternehmung für alle drei eine kaum zu ertragende zwischenmenschliche Situation: Freiheit oder Tradition? Liebe oder Familie? Beyto steckt in einer Identitätskrise im Spannungsfeld zweier Kulturen. Dialoge treten allmählich in den Hintergrund und lassen Ideen und Bildern Raum für das Unsagbare: Beytos und Mikes Träume von einer gemeinsamen Zukunft ohne Versteckspiel, Sehers Hoffnung auf eine bessere Zukunft in der neuen Heimat, die Ängste und Sorgen von Beytos Eltern, die ihre Rolle als fromme Muslime für die Familie bewahren können. 

Ein neuer Ort, ein Un-Orte, eine Utopie

Wut, Frustration, Verwirrrung und Enttäuschung überschatten das Leben von Beyto, Mike und Seher in der Schweiz, wohin sie geflohen sind. Der Umzug hat nichts gebracht. Doch Enttäuschung bedeutet bekanntlich, sich von einer Täuschung befreien, was ihnen vielleicht neue Wege zeigen kann, die Gitta Gsell gegen Schluss mit mehreren Anspielungen andeutet und uns in der fast ausweglosen Situation leise hoffen lässt. 

Der von den zwei Männern beschlossene nächste Umzug, nämlich aus der Schweiz nach Deutschland, so zeigt es der Film, lässt in feinen Anspielungen, mit neuen Bildern und neuen Tönen, ahnen, dass vielleicht doch noch etwas Anderes, Neues, ganz Unerwartetes möglich sein könnte. An einem neuen Ort, einem Un-Ort, eine Utopie, nach Wikipedia «verstanden als Entwurf einer möglichen, zukünftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist». Vielleicht deuten die Szenen gegen Schluss nicht nur eine glückliche Lösung für die drei jungen Menschen an – sondern weisen uns auf eine Utopie von allgemeiner Gültigkeit.

Biofilmografie von Gitta Gsell

Biografie: Gitta Gsell ist 1953 in Zürich geboren. Seit 1977 Buch und Regie für Theater und Performances. 1977-79 Besuch der F+F, Schule für Experimentelle Gestaltung, in Zürich. 1979-89 wohnhaft in New York. 1980-82 School of Visual Arts, New York, Bachelor of Fine Arts. Seit 1981 Drehbuch und Regie für Filme und Videos. 1982-84 Hunter College, New York, Master of Fine Arts in Combined Media. Seit 1990 lebt sie wieder in Zürich.

Ausgewählte Filmografie: 1987 «USA Dont’t Stand on the Ocean», Spielfilm; 2002 «Lilo & Fredi», TV-Movie; 2002 «Irene Schweizer – Jazzpianistin», Kino-Dok; 2003 «augen blicke N», Dokumentarfilm; 2007 «Bödälä – Dance the Rhythm», Kinodokumentarfilm; 2011 «Karambolage – Die Welt des Arnold Odermatt», TV-Dok; 2016 «Melody of Nois», Kinodokumentarfilm; 1997 «Propellerblume», Kino-Spielfilm; 2020 «Beyto», Kino-Spielfilm.

Regie: Gitta Gsell, Produktion: 2020, Länge: 98 min, Verleih: Frenetic