Ça commence aujourd'hui

Für die Schule, vor allem der Realstufe, aber auch für die Sozialarbeit, die man zu Hilfe ruft, wird Schulsozialarbeit immer mehr ein Thema.

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Versuche laufen an, Erfahrungen werden gesammelt, erste Untersuchungen liegen vor. Der Film des französischen Altmeisters Bertrand Tavernier «ça commence aujourd'hui» liefert dazu einen ergänzenden Beitrag. Weil er zum öffentlichen Diskurs die (Film-) Erlebnisse vermittelt; weil er am Extremfall wie durch ein Mikroskop das Wesentliche des Normalfalls sichtbar macht.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war das nordfranzösische Valenciennes eine wichtige Bergbauregion. Inzwischen sind die Zechen grösstenteils stillgelegt. Zurück bleiben verslumte Strassen, Wohnungen ohne Licht und Heizung, überforderte Sozialdienste, unterdotierte Schulen, verarmte Familien, verelendete Kinder, 34% Arbeitslose. Dieser Ort der Handlung kann als «paysage d 'âme» verstanden werden. Solche seelische Ödnis gibt es auch bei uns.

Der Film handelt in einer Vorschule, die Daniel Lefebvre leitet, in der Kinder noch spielen wie in einem Kindergarten, doch bereits lesen und schreiben lernen und sich auf die Schule vorbereiten. Einzig Bildung bringt ihnen, so hofft man, soziale Sicherheit und Zukunft.

Die Geschichte basiert auf dem Drehbuch von Dominique Sampiero, seit 25 Jahren in Valenciennes, und Taveriers Tochter Tiffany. Sie haben in der Art eines Dokumentarfilms Gehörtes, Gesehenes und Erlebtes in eine Geschichte verwoben, um damit das Publikum im Herzen zu treffen. Die Kamera folgt den Kindern, dem Schulleiter, den Lehrerinnen und Eltern in vibrierender Hektik und fängt ein, was zwischen den Protagonisten und in ihnen drin abläuft.

«Wir haben mit den Eltern diskutiert, ihnen die Geschichte präsentiert. Ihre Reaktion war fantastisch: Sie waren für mich wie eine richtige Familie. Für sie und ihre Kinder gab es in den paar Wochen einfach einen neuen Lehrer. Wir hatten kein Casting gemacht, denn es handelte sich um eine wirkliche Klasse. Das heisst natürlich auch, dass der Improvisation grosser Spielraum gelassen wurde», meint Tavernier.

Daniel ist Lehrer und Pädagoge. Er versucht den Kindern etwas Sinnvolles beizu bringen, sie mit Kulturtechniken vertraut zu machen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Er macht das, was Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Schulleiter überall tun. Doch zusätzlich ist er Sozialarbeiter. Er hilft zur Selbsthilfe, vermittelt Kontakte zu Behörden, interveniert bei Kindsmisshandlungen, löst Beziehungsprobleme, beschenkt auch mal in bitterer Not.

Er ist beides in einem. Analog zum «Schüler-Lehrer» oder zum «Lehrer-Schüler» von Paolo Freire kann man hier vom «Lehrer-Sozialarbeiter» oder vom «Sozialarbeiter-Lehrer» sprechen. Daniel ist beides, weil er beides sein muss, nicht anders kann, nicht das eine ohne das andere, weil für ihn beides zusammengehört. Der Filmemacher lässt seinen Protagonisten dabei beinahe verzweifeln – und gibt keine Antwort, stellt bloss Fragen.

Braucht es wirklich eine Spezialisierung zum Pädagogen und zum Sozialarbeiter? Enthält diese Teilung nicht die Gefahr der Fachidiotie? («Ein Fachidiot ist ein Spezialist ohne Horizont», meint Martin Schau.) Gibt es nicht Gemeinsames zwischen dem Helfen des Pädagogen und jenem des Sozialarbeiters? («Ist es nicht unverantwortlich, zu viel Verantwortung auf sich zu nehmen», meint Ruth C. Cohn.) Bildet die Spezialisierung nicht den Grund der Entfremdung und Auflösung der Ganzheit? Ist Erziehung nicht immer auch Sozialarbeit?

Der Film vermittelt uns an Stelle von Antworten Erlebnisse, Geschichten, Bilder, Töne, Emotionen, Assoziationen. Was in einer bestimmten Situation und Gruppe, für mich als Lehrer oder Lehrerin, als Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin das Richtige ist, muss ich selbst beantworten.