Chris the Swiss

Zu den Abgründen eines Krieges: Die Schweizer Filmemacherin Anja Kofmel verfolgt im Dokumentar-Animations-Film «Chris The Swiss» die Spuren ihres Cousins, eines Kriegsjournalisten und Kämpfers in Jugoslawien, und sucht nach Mechanismen des Krieges. – Kinostart 13. September
Chris the Swiss

Christian (r) im Gespräch mit einem Legionär

Kroatien, 1992. Mit der Belagerung von Vukovar durch die jugoslawische Armee hat einer der grausamsten Kriege der letzten Jahrzehnte begonnen. Im Morgengrauen des 7. Januar wird 30 km entfernt der Leichnam des 27-jährigen Schweizer Journalisten Christian Würtenberg gefunden, in die Uniform einer internationalen Söldnertruppe gehüllt. Laut der Autopsie hat man ihn erwürgt. Der Kriegsreporter von Radio 24 wurde erst wenige Wochen zuvor Mitglied des PIV, der First Platoon of International Volunteers. Diese paramilitärische Gruppe war mit der «Säuberung» der serbischen Bevölkerung in den Grenzgebieten beauftragt.

Zwei Jahrzehnte später, am Tage seines Todes, geht die Schweizer Filmemacherin Anja Kofmel, die Cousine von Chris, auf Spurensuche. Mit seinem Tagebuch als Leitfaden, beginnt sie, die letzten Schritte von Chris zurückzuverfolgen. Ihre Untersuchung umfasst die Familienmitglieder, Mutter Veronika Schwab, Vater Jürg und Bruder Michael; die Journalistenkollegen Heidi Rinke und Julio Cesar Alonso; Zeitzeugen, Söldner und Drahtzieher im Hintergrund, Menschen, die in diesen Krieg verwickelt waren.

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Ein Führer der Freiwilligentruppe

Anmerkung der Regisseurin

«Der Mord an meinem Cousin Chris war eine entscheidende Erfahrung in meiner Kindheit. Als er starb, war ich zehn Jahre alt. Ich sah immer zu ihm auf, bewunderte ihn für seine Reisen, Abenteuer und seinen freien Geist. Ich wollte genau wie er sein. Damals gab es einen Namen, der in unserer Familie immer wieder erwähnt wurde: Eduardo Flores alias Chico. Er war der Gründer einer Gruppe von Söldnern namens PIV, der mein Cousin beigetreten war. Kollegen waren davon überzeugt, dass Chris verdeckt die mafiösen Strukturen der PIV und ihre Verbindungen zur ultrakatholischen Organisation Opus Dei untersucht habe. Sie dachten, dass er von seinen Mitstreitern getötet worden war, weil er der Wahrheit zu nahe gekommen war. Die Schweizer Behörden betrachteten Chris jedoch nicht als Journalisten, sondern erklärten ihn zum Söldner, der im Kampf getötet worden war. Sein Fall wurde weder untersucht noch gelöst.

Als ich so alt war wie Chris, als er starb, beschäftigte mich die Geschichte von Neuem. Im Jahr 2009 wurde Chico, der Führer der PIV, in Bolivien bei einem Attentat auf Präsident Evo Morales erschossen. Dies war der Schlüsselmoment, der mich dazu brachte, Chris’ Geschichte zu einem Film zu machen. Ich beschloss, Animation und Dokumentation zu mischen, um das komplexe Thema zu bewältigen. Ich fange meine Recherchen und meine Begegnungen mit Zeitzeugen klassisch dokumentarisch ein, während die Animation es mir erlaubt, die Geschichte zu interpretieren und die Grausamkeit und Verzweiflung des Krieges subjektiv erlebbar zu machen.

Mehr als zwanzig Jahre später liess ich mich auf meiner Suche nach Spuren seiner letzten Lebenstage von Chris’ Notizen leiten. Meine Untersuchungen führten mich zu verschiedenen Zeugen der Vergangenheit. Die Geschichte meines Cousins führt mich in eine unheimliche Welt, die von Männern dominiert wird, die Hass schüren und die Bevölkerung einschüchtern, um ihre machtgetriebenen Ziele zu erreichen. Es zeigt mir, wie zerbrechlich die Strukturen unserer Gesellschaft sind, wie wenig es braucht, um ein friedliches Zusammenleben zu korrumpieren – nicht nur im ehemaligen Jugoslawien, sondern überall auf der Welt.»

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Schiessen, sobald sich etwas regt

Ein glaubwürdiger Antikriegsfilm

Anja Kofmel wollte nicht nur den Tod ihres Cousins Christian im Jugoslawienkrieg erforschen, nachdem dieser zuvor in Südafrika und Namibia in ähnlicher Funktion tätig gewesen war. Mehr und mehr begann sie sich während ihrer Arbeit grundsätzliche Fragen zu stellen: Warum ziehen junge Männer in den Krieg? Warum faszinieren sie Waffen und das Töten? Denn zur Zeit der Produktion ihres Films begannen überall in Europa junge Männer sich dem radikalen Islam anzuschliessen und nach Syrien zu reisen, anfänglich um ein Kalifat zu errichten und dafür ganze Landstriche mit Gewalt zu erobern, sodass die Bewohner millionenfach ins Ausland fliehen mussten. Für die Regisseurin – und wohl auch für uns – ist die Analogie zwischen den Ereignissen in Jugoslawien der 1990er Jahre und der Gegenwart auch in anderen Ländern offensichtlich.

Kofmels Film wird so zu einer Abrechnung mit der Vergangenheit in Jugoslawien, gleichzeitig aber auch zu einer Analyse menschlicher, vor allem männlicher, Irrwege und schliesslich eine universelle Erzählung über die Absurdität aller Kriege, damaliger, heutiger und künftiger. Das macht die Regisseurin in einer formal geglückten Mischung von Dokumentarfilm und Animationsfilm. «Chris The Swiss» ist ein intellektuell und emotional in die Tiefe gehender Antikriegsfilm. Nicht nur die letzten Wochen ihres Cousins hat sie illustriert, sondern auch die allgegenwärtige Grausamkeit der Kriege für das Publikum greifbar gemacht. Ohne ihre kindliche Emotionalität und Subjektivität zu verlieren, erforscht sie das Thema mit der kritischeren Objektivität der erwachsenen, politisierten Autorin. Der eindrückliche, berührende, teils beklemmende Film erzählt exemplarisch am Beispiel von Christian Würtenberg die Geschichte eines jungen, idealistischen Schweizers, der die Rolle des beobachtenden Kriegsjournalisten aufgibt, ein aktiver Krieger wird und sich in eine dunkle und brutale Welt verirrt.

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Christian, der Journalist und Kriegsberichterstatter

Anja Kofmel: Cousine, Autorin, Regisseurin

Anja Kofmel wurde 1982 in Lugano geboren und wuchs in der Nähe von Zürich auf. Sie studierte zwischen 2005 und 2009 Animation an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern und während eines Semesters an der Ecole Nationale Supérieure des Arts Decoratifs in Paris und schloss ihr Studium ab mit dem Diplom in visueller Gestaltung, spezialisiert auf Animation. Ihr Diplomprojekt war «Chrigi», ein preisgekrönter Kurzfilm, der sich bereits mit der Ermordung ihres Cousins Christian Würtenberg auseinandersetzte. Nach ihrem Studium arbeitete sie als unabhängige Animations- und Dokumentarfilmerin sowie Illustratorin und besuchte Workshops im Bereich Storytelling, Storyboarding und Produktion in England. Zwischen 2015 und 2017 verbrachte sie die meiste Zeit in Kroatien und Deutschland, wo sie als künstlerische Leiterin des Anima-Docs «Chris the Swiss» ein internationales Team von Animatoren leitete.

Regie: Anja Kofmel, Produktion: 2018, Länge: 90 min, Verleih: First Hand Films

PS: Ausstellung von Zeichnungen zu «Chris The Swiss»
Vom 1. Bis 29. September zeigt das Animatorium in Zürich (Leuengasse 15) eine Making-of-Ausstellung zum animierten Dokumentarfilm "Chris the Swiss" von Anja Kofmel, mit Originaldokumenten von Entwicklung der Idee bis zum fertigen Film.

Öffnungszeiten Mi-Fr 14-19h, Sa 13-17h, So 9.9. 13-15h