City of Wind

In verschiedenen Welten leben: Der junge Ze unterwirft sich dem Leistungsdruck der Institutionen, um in der mongolischen Gesellschaft zu bestehen, kommuniziert als Schamane mit seinen Vorfahren und wirkt als spiritueller Helfer, bis die Begegnung mit der herzkranken Maralaa sein Leben verändert. Die Regisseurin Purev-Ochir lässt uns in ihrem poetischen und vielschichtigen Erstling «City of Wind» erahnen, was es heisst, in verschiedenen Welten zu leben. Ab 4. Juli im Kino
City of Wind

Ze als Schamane mit der Assistentin

 

Etwa die Hälfte der 3,2 Millionen Menschen der Mongolei lebt in der Hauptstadt Ulaanbaatar, einem Labyrinth aus Strassen und zackigen Wolkenkratzern. Ein Viertel der Bevölkerung sind Nomaden, die in traditionellen Jurten wohnen, viele bekennen sich noch zur alten animistischen schamanistischen Religion des Tengrismus, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen.

 

Vom Ursprung des Films

 

«Der Film ist aus einer Begegnung heraus entstanden, die derjenigen im Film nicht unähnlich ist», meint Lkhagvadulam Purev-Ochir, «meine Mutter nahm mich mit zu einem Schamanen, um eine Familienangelegenheit zu klären. Wir kamen zu spät zur Zeremonie und konnten den Schamanen nicht mehr persönlich treffen. Während ich auf meine Mutter wartete, setzt sich ein junger Mann neben mich. Er wirkte cool, hatte beide Arme voller Tattoos, einen Ohrring und spielte auf dem Handy. Als wir das Haus verliessen, sagte meine Mutter, dass dies der Schamane gewesen sei. Ich war schon früher zu Schamanen und Sehern gegangen, aber noch nie zu einem, der jünger war als ich. Dieser Moment hatte eine grosse Wirkung auf mich. Es war für mich als junge Mongolin ein Moment der Selbsterkenntnis. Denn wir alle tragen Masken, spielen Rollen und haben verschiedene Identitäten.» (aus einem Gespräch mit der Regisseurin im trigon-Magazin Nr. 100)

 

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Ze als Student in der Schule

 

Ein vorläufiger Dualismus

 

Der junge Ze, verkörpert vom Laiendarsteller Tergel Bold-Erdene, ist ein Top-Schüler, engagiert sich im Dorf, wirkt als begnadeter Schamane, doch wie viele Teenager ringt er mit Minderwertigkeitsgefühlen, wenn er die Verlockungen der Metropole vom Dorf aus beobachtet. Seine Begegnung mit der etwas jüngeren Maralaa, gespielt von der professionellen Schauspielerin Nomin-Erdene Ariunbyamba, weckt während eines Rituals in ihm eine Sehnsucht, die seine Abkehr vom Schamanismus einleitet. Verzaubert von der jungen Frau, wird er zu ihrem einfühlsamen Begleiter, der ihr gern die Initiative überlässt, sei es beim Haarefärben oder beim nächtlichen Clubbing.

 

Der in Jurten und Hütten und vor Hochhäusern spielendende Film «Stadt des Windes» schildert die Entwicklung der Mongolei seit den postkommunistischen 1990er-Jahren in nüchterner, ruhiger Erzählweise, deren Wurzeln im Sozialrealismus liegen. Er zeigt nuancenreich die Ambivalenz eines Teenagers zwischen traditionellen und spirituellen Pflichten und seiner persönlichen Entwicklung. Und über allem liegt eine entlastende Zufälligkeit; so wird etwa gegen Schluss «Ein junger Schamane» als anderer Filmtitel eingeblendet. Klare, immer wieder die Landschaften einbeziehende Bilder von Vasco Viana und ein spärlicher, teils jenseitiger elektronischer Sound von Vasco Mendonça verstärken das Nebeneinander verschiedener Realitäten.

 

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Ze und Maralaa

 

Ze, der Janusgesichtige

 

Die 1989 in Ulaanbaatar geborene Drehbuchautorin und Filmemacherin: «Mir ist aufgefallen, dass junge Menschen im Wesen viel unbeschwerter scheinen und mehr Leichtigkeit ausstrahlen. In der Mongolei fühlt man sich schon müde, wenn man die Schulausbildung abschliesst. Das ist wohl die Folge von zu vielen Erwartungen, die die Gesellschaft an uns stellt.» Szenen des rigiden Schulbetriebs verdeutlicht dies. Hier setzt der Film an. Die Regisseurin hatte vor allem die Szene vor Augen, in der der Schamane seinen zeremoniellen Kopfschmuck abnimmt und ein junger Mann zum Vorschein kommt. Dieser Moment berührt sie tief, weil er am schönsten zum Ausdruck bringt, wie es ist, heute als junge Mongolen zu leben.

 

Ihr war wichtig, das Thema Tradition versus Moderne nicht dualistisch darzustellen. Das Gefühl, das sie in Bezug auf eine traditionelle und eine moderne Rolle zum Ausdruck bringen wollte, ist nicht eines, bei dem man zwischen beiden feststeckt und sich fatalerweise für das eine oder das andere entscheiden muss. So fühlt sie sich nicht als junge Mongolin: «Mir ist es sehr wohl damit, gleichzeitig modern und traditionell zu sein. Das bereichert mein Leben, sowohl meine äussere als auch meine innere Welt.»

 

«Die Stadt des Windes» soll auch kein Film über die Entscheidung zwischen Liebe und Tradition sein. Im Laufe der Erzählung lösen sich sämtliche feindseligen Spannungen auf. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne wird verarbeitet. Ze und Maralaa, die unterschiedliche Ansichten über den Schamanismus und ihre Zukunft haben, schaffen es, sich gegenseitig zu necken und ihre Beziehung zu leben. Deshalb ist die Szene auf der Brücke, wo sie sich gegenseitig an die Pfeiler zeichnen, die Lieblingsszene der Regisseurin. Sie sagt viel darüber aus, wie die Menschen in der Mongolei zueinander stehen, über die Vielfalt der Lebensformen, die vielfältigen Träume und ihre Akzeptanz.

 

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Auf dem Weg in eine der vielen Zukünfte

 

Erklärung der Regisseurin

 

«Dieser Film ist mein Versuch, die zeitgenössische Mongolei zu dokumentieren. Ich fühle eine düstere und ständig wachsende Vergangenheit, die uns beobachtetet, wie wir in eine ungewisse Zukunft rasen. Ich hoffte, diese Unsicherheit einzufangen, indem ich Ze, dem 17-jährigen Schamanen, folge, der davor steht, die Highschool mit Top-Marken zu absolvieren, belastet von Ideen, wer er sein soll, plötzlich Gelegenheit findet, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, nachdem die 16-jährige Maralaa in seinem Leben aufgetaucht ist. Er entdeckt sich als Person. Die Zeit, die er mit ihr abseits seiner täglichen Routine verbringt, ermöglicht ihm, seine Rolle als Schamane aus der Ferne zu betrachten. In Zes Leben bahnt sich eine Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an.

 

Ein persönlicher Ausblick

 

Vielleicht zeigt sich in der von der Regisseurin hervorgehobenen Szene auf der Brücke mit dem gegenseitigen Porträtieren nicht nur den zwei jungen Menschen in der Mongolei, sondern auch uns ein tieferer Sinn. Der Film verweilt in den kleinen, subtilen Momenten zwischen den Menschen, die unerwartet gross und bedeutend werden können, wenn die beiden Zeichnenden sich anschauen, gegenseitig in den Zeichnungen erkennen und akzeptieren. – Mich erinnert diese Szene, die, hier fremdländisch verspielt, dort bei Alain Resnais in seinem Meisterwerk «Hiroshima, mon amour», intensiv und tiefgründig, auf die Herzen und auf die Welt zielt, im Moment als der Japaner die Französin mit «Du bist Hiroshima» anspricht, ihr einen Namen gibt, sie sozusagen «tauft».

Regie: Lkhagvadulam Purev-Ochir, Produktion: 2023, Länge: 103 min, Verleih: trigon-film