Cleveland versus Wall Street

Am 11. Januar 2008 klagt die Stadt Cleveland gegen 21 Banken, die sie für die verheerenden Auswüchse der Immobilienkrise verantwortlich macht.

anwälte.jpg

Für jeden Film braucht es ein gut durchdachtes Dispositiv.

Wall Street verhindert die Eröffnung des Prozesses. Der Dokumentarspielfilm «Cleveland versus Wall Street» erzählt die Geschichte des Gerichtsverfahrens, das hätte durchgeführt werden müssen: ein Film-Prozess mit realen Protagonisten, wirklichen Beweisen und Zeugenaussagen, unter der Regie von Jean-Stéphane Bron.

Ähnliches wie «Dharavi – Slum for Sale» über die Sanierung von Mumbai, der kürzlich in den Kinos lief, bietet «Cleveland versus Wall Street» einen politischen Diskurs mit vielen Antworten und noch mehr Fragen an. Anders als Michael Moore und Al Gore, die mit ihren berechtigten Filmpamphleten «Capitalism: A Love Story» und «An Inconvenient Truth» provozieren und aufrütteln geht Jean-Stéphane Bron vor. Er arbeitet argumentativ und dialektisch, bringt einen der Demokratie verpflichteten öffentlichen Diskurs in Gang. Er lässt nicht nur die eine oder die andere, sondern gleich verschiedene Meinungen zu Worte kommen: Anwälte, Verteidiger, Richter, Berater, Bewohner der Stadt und selbst Barack Obama. Und hinter der Story wird einem zusätzlich bewusst, dass nicht alles, was juristisch rechtens ist, auch moralisch verantwortet werden kann. – Das nachfolgende Interview mit dem Regisseur gibt Einblick in seine Absichten und Herangehensweise.

Interview mit dem Regisseur Jean-Stéphane Bron

Wie kam es zu «Cleveland versus Wall Street»?

Im Dokumentarfilm «Mais im Bundeshuus» versuchte ich, einen demokratischen Vorgang zu zeigen, und zwar anhand der Arbeit einer parlamentarischen Kommission, die ein Gesetz, die so genannte Gen-Lex, erarbeiten sollte. Der Film zeigte, wie Wirtschaftsvertreter die Politiker beeinflussen und verunsichern. Damals begann ich mich für Wirtschaft zu interessieren. Ich dachte mir, dass ich nach der «Demokratie in Aktion» auch versuchen könnte, den «Kapitalismus in Aktion» zu filmen. Dies war mein Motiv.

Wie geht man von einer ersten Idee zur praktischen Umsetzung über?

Ich kannte mich in den Finanzen und der Wirtschaft überhaupt nicht aus. Doch ich merkte, dass sie die politischen und ideologischen Kräfte beeinflussten und dass wir uns in einer Umbruchphase befanden. Natürlich ahnte ich den Zusammenbruch der Börsenmärkte nicht. Ich spürte nur, dass etwas geschehen würde – «Mais mit de Bänkler» sozusagen. Ich recherchierte drei Jahre lang und unternahm viele Reisen, um einen Ort zu finden, wo diese abstrakten, volatilen und filmisch kaum fassbaren Kräfte eine konkrete Form annehmen könnten. Eines Tages las ich eine Kurzmitteilung: Die Stadt Cleveland wollte gegen die Banken klagen, die in die Affäre der Subprimes involviert waren. Zwei Wochen später war ich vor Ort. Und sechs Monate später war die Krise da: der Niedergang der Lehman Brothers, der Zusammenbruch der amerikanischen Börse, die Auswirkungen auf den Rest der Welt, auch auf die Schweiz. Zu jener Zeit lernte ich Josh Cohen und Barbara Anderson kennen. Diese beiden Begegnungen waren entscheidend. Ich fand, dass sie die Stadt und deren Widerstandsgeist gut personifizierten. Cleveland gegen Wall Street, das war ja die alte Geschichte von David gegen Goliath.

«Mais im Bundeshuus» war eine Art Politthriller. «Cleveland versus Wall Street» bot die Gelegenheit, einen Prozess zu filmen, wo sich das Gute und das Böse in klassischer Manier gegenüberstehen. Gerichtsverfahren dienen gewöhnlich dazu, Fakten unumstösslich zu belegen. Sie bringen Licht in die Ereignisse, indem sie die einfache Frage stellen: «Was ist geschehen?» Hier geht es eher um eine Untersuchung, in deren Verlauf nach und nach eine Kette von Verantwortlichkeiten entsteht. Eine Kette, die nicht die Wahrheit, sondern eine Wahrheit aufdeckt, die Wahrheit der sieben Zeugen. Denn die Ursachen der Krise sind extrem komplex.

Was brachte Sie dazu, diesen Prozess zu inszenieren?

Als ich merkte, dass der reale Prozess nie stattfinden würde, erblickte ich darin eine Chance. Ich konnte die Dinge nach meinem Gutdünken darlegen. Die Realität hatte sich mir entzogen, doch sie bot die Möglichkeit zu einem Film.

Ist es nicht eher ein Spielfilm als ein Dokumentarfilm, da Sie den Prozess ja selber organisiert haben?

Auch wenn ein Teil des Films deutlich inszeniert ist, gehört er dennoch ganz klar in den Dokumentarfilmbereich. Meine Protagonisten spielen keine Rolle, sie sind keine Schauspieler. Sie haben keine Texte auswendig gelernt, sondern geben ihre eigene Wahrheit wieder. Sie sagen aus. Nichts wurde aufgeschrieben oder geprobt. Ich hörte die Zeugenaussagen erstmals beim Drehen. Und auch das Urteil erfuhr ich erst beim Filmen der Beratungen.

juroren.jpg

Bewohner der Stadt als Geschworene

Wie wählten Sie die Zeugen aus?

Die Sache mit den Subprimes haben wohl nur wenige wirklich verstanden. Ich wollte sie verständlicher machen, indem ich die Ursprünge des Übels erforschte, die weder technischer noch finanzieller Natur sind. Dazu brauchte ich bestimmte Persönlichkeiten. Typen, die an sich interessant waren, die aber einen zusätzlichen Aspekt einbrachten. Ich wollte die Auswirkungen und die Gründe auf der «Gerichtsbühne» zusammenführen. Auf der einen Seite steht beispielsweise ein Mann, der demnächst sein Haus verlieren wird, ihm gegenüber steht ein Verfechter der Marktderegulierung. Selbstverständlich gibt es eine metaphorische Dimension in diesem Prozess, der sich unter den Augen eines ganz besonderen Menschen abspielt: Barbara Anderson. «The Lady in Red» steht für den Gedanken des Widerstands, der Revolte.

barbaraanderson.jpg

Barbara Anderson, engagierte Bewohnerin

Wurden die Aufnahmen oft wiederholt, und wie stark haben Sie eingegriffen?

Ich wollte den Zuschauern die Debatten verständlich machen und ein Abdriften in allzu technische Informationen vermeiden. Das Gesagte sollte lebendig und nachvollziehbar bleiben. In diesem Sinne griff ich ein und wiederholte gewisse Aufnahmen. Für mich beschränkt sich der Dokumentarfilm, das Cinéma du réel, nicht auf die Beobachtung und die Wiedergabe. Es bietet auch Raum für die Inszenierung und den Schnitt, der hier eine ganz besondere Bedeutung hat, da alles neu erfunden wird. Die Realität ist der Ausgangspunkt in eine neue Richtung.

Worauf achteten Sie beim Dispositiv?

Der Film beruht auf dem Prinzip der Befragung und der Gegenbefragung, auf der Konfrontation zweier Standpunkte. Wir drehten mit zwei Kameras, die wir auf kleine Travellingschienen befestigten. Dies, damit wir so oft wie möglich in der Blickrichtung der Protagonisten waren und dadurch den Eindruck von Transparenz zwischen ihnen und dem Zuschauer erweckten.

Wie verliefen die Dreharbeiten?

Die eigentlichen Dreharbeiten dauerten drei Wochen. Manchmal befanden sich über 70 Personen auf dem Set. Aus logistischer Sicht war dies ebenso schwerfällig wie bei einem Spielfilm: Es gab Dispos, Drehpläne, eine Kantine. Und gleichzeitig war ich mir der Zerbrechlichkeit des ganzen Unternehmens bewusst. Ich war ja nicht einmal sicher, ob die Zeugen kommen würden. Zwei Wochen vor Drehbeginn hatte ich noch keine Familie gefunden, die bereit war, auszusagen. Sich im Gerichtssaal den Blicken der anderen auszusetzen, braucht Mut. Der Verlust eines Hauses bewirkt ein Schamgefühl.

Wie reagierte Josh Cohen, der Anwalt aus Cleveland, als Sie ihm vom Projekt erzählten?

Josh hatte eine grosse Wut in sich, die sich mit zunehmendem Alter verstärkte. Damit konnte ich mich gut identifizieren. Ich glaube, dass es für ihn eine symbolische Genugtuung war, in einem Prozess mitwirken zu können, der ihm im wirklichen Leben versagt wurde.

Und wie haben Sie den Anwalt der Gegenpartei gefunden?

Es war mir wichtig, Josh Cohen einen sehr starken Gegner gegenüberzustellen, der physisch und intellektuell beeindruckt. Ich fand ihn über Peter Wallison. Er war unter Reagan Berater im Weissen Haus. Ich fragte ihn, wer sein Anwalt und Verteidiger des Systems sein könnte. Er verwies mich an Freunde von ihm. Anschliessend machte ich ein Casting. Als ich Keith Fisher traf, wusste ich sofort: Das ist er. Ich glaube, dass er aus Überzeugung mitgemacht hat und weil ihn die Sache herausforderte.

Wie ist Ihre Beziehung zum Dokumentarfilm und zum Spielfilm? Suchen Sie eine Form, die die beiden untrennbar verbindet?

Nein, nicht unbedingt. «Cleveland versus Wall Street» ist ein Dokumentarfilm, auch wenn er formal auf Instrumente der Fiktion zurückgreift. Aber ich finde es tatsächlich interessant, wenn der Spielfilm und der Dokumentarfilm sich gegenseitig inspirieren, um neue Gebiete zu erkunden. Mir scheint, dass der grenznahe Film unsere Zeit am besten wiedergibt und am ehesten in der Lage ist, politische Fragen anzugehen

www.clevelandversuswallstreet.ch