Compartment No. 6

Wie eine wunderbare Freundschaft entsteht: Der Spielfilm «Compartment No. 6», mit einer Finnin und einem Russen in den Hauptrollen, lässt uns langsam und intensiv erleben, wie aus Ablehnung eine Freundschaft entstehen kann. Unterhaltsam, humorvoll, mit Zärtlichkeit und grosser Menschenkenntnis erzählt Juho Kuosmanen sein Seelen-Roadmovie. Ab 3. März im Kino
Compartment No. 6

Laura reist ohne ihre Freundin zu den Petroglyphen

Die schüchterne finnische Archäologiestudentin Laura ist fest entschlossen, die Felsenmalereien von Murmansk nahe am Polarkreis zu besichtigen. Nach einer unglücklichen Romanze verlässt sie Moskau allein. Die Aussicht auf eine beschauliche Eisenbahnreise zerschlägt sich, als sie den Mitreisenden im Abteil kennenlernt. Ljoha ist Bergarbeiter, trinkfest und laut, ein Typ, der kaum Grenzen kennt. Doch während ihrer gemeinsamen Reise müssen die ungleichen Passagiere auf engstem Raum miteinander auskommen, bis allmählich eine Annäherung spürbar wird.

Zum Sound von «Voyage Voyage» nimmt uns der 1979 in Helsinki geborene Filmemacher Juho Kuosmanen mit auf eine Reise durch das winterliche Russland der späten 1990er-Jahre, auf der zwei Aussenseiter über alle Kultur- und Klassengrenzen hinweg sich wahrzunehmen beginnen. Ein liebevoll raues, melancholisch-komisches Roadmovie, das vieles mitgeben kann

Compartment No6 by Juho Kuosmanen ©2021 Sami Kuokkanen Aamu Film Company. PHOTO2.jpg foto3zu2

Laura und Ljoha: noch vorsichtig verhalten

 

Anmerkungen des Regisseurs



«Compartment Nr. 6» ist mein unbeholfener Versucht, in einer Welt voll Chaos und Angst Harmonie und Seelenfrieden zu finden. Denn mir fällt es schwer, zu akzeptieren, wie man als Teil dieser chaotischen Welt existiert. Unsere Studentin unternimmt eine lange Fahrt, um uralte Felszeichnungen zu besuchen. Eigentlich wäre sie gerne Archäologin geworden, die in Dingen wie Petroglyphen ihre Erfüllung findet. Aber ist sie wirklich diese Person? Oder ist dies nur ein gestohlener Traum einer Person, die sie gern wäre? Solche Fragen beginnt sie sich zu stellen. Im Zug trifft sie Ljoha, einen Bergarbeiter, der ihr wie ein Schatten folgt. Laura will im Grunde ihre Vergangenheit kennenlernen, Ljoha verkörpert diese: eine unangenehme, alltägliche Vergangenheit. Sind beide wirklich, wer sie zu sein scheinen?

Compartment No6 by Juho Kuosmanen ©2021 Sami Kuokkanen Aamu Film Company. PHOTO3

Laura lernt von einer Russin

Auf dem Weg zum Andern und zum Ich

Bei einem Roadmovie die Etappen zu verraten, scheint mir fast schon eine Beleidigung des Publikums. Denn jede Minute, jeder Schwenk, jeder Schnitt, jeder Satz bringt Überraschendes, das es zu entdecken gibt. Darum nur so viel: Die Reise beginnt in einem Studentenzirkel in Moskau, wo Laura nochmals mit ihrer Freundin Irina schläft, dann von ihr aber verlassen wird, und sie endet, nach Zug-, Auto- und Schifffahrt, am Ziel ihrer Träume, den Petroglyphen auf Murmansk. Den Weg dahin macht auch Ljoha, der bei seinem etwas andern Ziel glücklich ankommt.

Was in den 160 abwechslungsreichen, visuell, akustisch und rhythmisch spannenden Minuten inszeniert wurde, ist grosses Kino, ist Seelen-Kino. Ein Roadmovie mit äusseren, mehr noch inneren Überraschungen: mit vorsichtigem Abwarten, langsamem Sich-Nähern, kritischem Schauen und Hören und schliesslich wunderbaren Momenten der Nähe – und dies in unzähligen Feinheiten zwiscAus einem Interview mit Joho Kuosmanenhenmenschlicher Kommunikation durchdekliniert, durchkonjugiert und grossartig gespielt.

«Compartment No. 6» ist beseelt von Ideen, die wir von Denkern und Dichtern wie Buber, Saint-Exupéry, Watzlawick, Fromm, Perls, Gibran und anderen aus ihren Werken über das Menschsein vielleicht schon kennen. Doch der Film erzählt dies in einer unterhaltsamen Geschichte zwischen Moskau, St. Petersburg und Murmansk als feine, tiefsinnige Unterhaltung.
 

Compartment No6 by Juho Kuosmanen ©2021 Sami Kuokkanen Aamu Film Company. PHOTO4

 

Gemeinsam am Ziel

 

Aus einem Interview mit Joho Kuosmanen



Was hat Sie am Roman von Rosa Liksom gereizt? Nach der Lektüre ihres Buches glaubte ich, dass es nur schwer verfilmbar ist. Doch ich habe ein schlechtes Gedächtnis und vergass bald einen Grossteil des Inhalts. Gleichzeitig begann ich erneut sein Potenzial zu spüren. Ich hatte es nochmals gelesen und stellte wieder fest, dass es kaum verfilmbar sei. Dann traf ich die Autorin und spracAus einem Interview mit Joho Kuosmanenh mit ihr über eine Verfilmung, erzählte von meinen Hoffnungen und Zweifeln. Spontan sagte sie mir, ich könne mit dem Buch machen, was ich wolle. Und das taten wir dann auch. Der endgültige Film ist also eher von Rosa Liksoms Roman inspiriert als auf ihm basierend. Nach der Recherche und dem Casting änderte sich alles nochmals. Wir hatten uns weiter vom Buch entfernt, änderten die Route, das Jahrzehnt und das Land, von der Sowjetunion wurde Russland, wir änderten Alter und Namen der männlichen Figur. Ljoha heisst ein verrückter Typ, dem wir vor dem Dreh im Zug begegnet waren. Wir änderten so viel, dass die Frage jetzt heisst: Was wurde nicht geändert?

Der Film beginnt mit einer Liebesgeschichte, entwickelt sich dann in eine andere Richtung. In meiner Sicht beginnt der Film, wenn Laura den Zug besteigt. Doch ich wollte die komplizierte Situation zeigen, aus der sie flieht. Für mich geht es nicht um eine Wendung, sondern um einen Kontrast. Am Anfang ist sie losgelöst, am Ende fühlt sie sich verbunden. Im Grunde genommen möchte sie am AnfAus einem Interview mit Joho Kuosmanenang wie Irina sein, eine intellektuelle Moskauerin. Während der Reise merkt sie, dass sie eigentlich mehr mit Ljoha gemein hat, auch sie ist unkorrekt, unbeholfen und einsam.

Glauben Sie, dass das Publikum fähig ist, eine Romanze ohne Sexszenen im Kino zu erleben? Was mich interessiert, sind Gefühle, die über sexuelle Spannung hinausgehen. Romantische Liebesgeschichten sind oft zu eng gefasst: Verlieben sie sich? Wann haben sie Sex? Bei dieser Art von Geschichten geht es darum, dem Voyeurismus der Zuschauer zu frönen, was sich gut verkauft. Ist das aber auch wirklich interessant? Mein Interesse gilt den komplizierten Gefühlen, die hinter verschiedenen Arten von Beziehungen stehen. Ich möchte verstehen, warum wir so fühlen, wie wir fühlen. Mir geht es in dieser Geschichte um Verbundenheit, ich glaube, Laura und Ljoha verbindet etwas Tieferes als ein sexuelles Bedürfnis. Sie leben eher wie lang verschollene Geschwister, ich glaube, dass sie die gleichen unausgesprochenen Gefühle teilen. Es ist eher so, dass sie die gleiche Kindheit, nicht die gleiche Vorstellung von Politik, haben. Sie sind auf emotionaler Ebene verbunden, nicht auf kultureller.


Der Regisseur mit seinen Protagonisten

 

Henri Vares Hytti 

Ein wunderbares Trio

Sie haben einmal gesagt, dass wir in der Zeit, in der wir dem andern begegnen, am meisten wir selbst sind. Die Begegnung mit dem Andern ist sicherlich eines der Hauptmotive dieses Films. Wir haben mit den Drehbuchautorinnen Livia und Andris lange über die Figur von Ljoha gesprochen: Wer oder was ist er? Ist er das Andere, der Spiegel von Lauras wahrem Ich, das sie nicht akzeptiert. Für mich geht es um die Begegnung mit dem Andern, dem Eintauchen in das eigene Innere und den Versuch, zu verstehen und zu akzeptieren, wer man selbst ist. Wenn man jemandem begegnet, gibt es die Möglichkeit, neu anzufangen, zu tun, als wäre man jene Person, die man gern sein möchte, oder die Chance zu ergreifen, sich zu öffnen und etwas Neues über sich zu erfahren. Je nachdem wie das Aufeinandertreffen mit dem Andern läuft, fängt man an, sich zu verstehen, oder lässt los und ist einfach sich selbst.

Warum gerade mit den uralten Felszeichnungen? Petroglyphen sind bleibende Zeichen aus der Vergangenheit. Laura glaubt, dass sie bei ihrem Anblick mit etwas Dauerhaftem in Kontakt treten kann. In einem Leben, das nur aus einer Reihe flüchtiger Momente besteht, hofft sie, dass ihr die Steinzeichnungen Beständigkeit geben können. Doch Petroglyphen sind nur kalte Steine, durch die man nicht wirklich eine Verbindung spürt. Alles, was wir haben, sind flüchtige Momente, was wirklich zählt, ist das Vorübergehende. Wenn wir etwas Ewigem nachjagen, können wir verlieren, was wir im Jetzt haben. Anderseits stehen Petroglyphen auch für die Angst vor dem Tod. Wir wollen nicht spurlos für immer verschwinden, sondern möchten, dass man sich an uns erinnert. Die Menschen fertigen verrückte Monumente an, um der WeltEin wunderbares Trio ein Zeichen ihrer Existenz zu hinterlassen. Was Laura und Ljoha auf dieser Reise erleben, wird bei ihnen tiefe Spuren hinterlassen. Und nach dem Dreh kann ich sagen: «Compartment No. 6» ist meine Petroglyphe!

Regie: Juho Kuosmanen, Produktion: 2021, Länge: 160 min, Verleih: Xenixfilm