Conducta

Schüler und Lehrer in Havanna: In seinem eindrücklichen Spielfilm «Conducta» erzählt der Kubaner Ernesto Daranas von der Freundschaft zwischen einem schwierigen Schüler und einer lebensklugen alten Lehrerin.
Conducta

Kuba ist gegenwärtig in aller Munde, weil seine Beziehungen zu den USA langsam normalisiert werden und weil die Schweiz für ihre jahrzehntelange Vermittlungsarbeit offiziell verdankt wurde. Aus diesem Grund kann ein kubanischer Film wie «Conducta» (Das Verhalten) im Ansatz als aktueller Gradmesser der Befindlichkeit der Menschen in diesem Land gewertet werden.

Doch es gibt einen tieferen Grund, warum sich dieser Film zur Auseinandersetzung anbietet, nämlich die Frage: Wer ist ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin? Und dazu gibt er Antworten, die gerade heute auch in der Schweiz zu bedenken sind. Denn bei uns wurde diese für die Schule und die Gesellschaft essenzielle Frage von der Tagesordnung verdrängt durch die polemischen Diskussionen um den «Lehrplan 21». Zu hoffen ist, dass der öffentliche Diskurs darüber bald wieder weitergeführt wird. Und deshalb lohnt es sich, den Spielfilm von Ernesto Daranas anzuschauen und darüber nachzudenken. Im Mittelpunkt steht darin neben dem Schüler Chala die alte Lehrerin Carmela. Diese Frau genau zu betrachten, ihrem Handeln nachzuspüren, ihre Gedanken nachzuvollziehen, ohne gleich in theoretische Diskussionen zu verfallen, sondern ganz nah bei der Person zu bleiben, dürfte auch uns etwas geben.

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Carmen, beseelt und beseelend

Chala und Carmen: ein Schüler und seine Lehrerin

Der elfjährige Chala wächst bei seiner drogensüchtigen Mutter auf und muss mit mehr oder minder legalen Jobs zum Lebensunterhalt beitragen, zum Beispiel indem er einem Nachbarn, der vielleicht sogar sein Vater ist, Hunde aufziehen und für blutige Wettkämpfe abrichten hilft. Kein Wunder, fällt er den Behörden und anderen Aufsichtspersonen immer wieder negativ auf. Durch seine Lebensumstände zwar gewieft, doch nicht abgestumpft, bewegt er sich zusammen mit seinen Freunden in den lärmig bunten Strassen Havannas wie ein Fisch im Wasser. In der Schule ist er nie um einen Spruch verlegen, in Auseinandersetzungen bleibt er hart, doch butterweich, wenn es um seine Mutter, seine heimliche Liebe zu Yeni oder seine verehrte Lehrerin Carmela geht.

Carmela, seine eigentlich schon pensionierte Lehrerin, steht dem Jungen mit ihrer Lebensklugheit beiseite, deckt ihn bei brenzligen Situationen, spricht mit ihm, ohne gleichzeitig den Eltern ins Gewissen zu reden, sich besser um ihn zu kümmern. Als sie nach einem Zusammenbruch länger ausfällt, beschliesst das Schulteam, dass Chala in ein Erziehungsheim muss. Gegen diesen Entscheid und andere Veränderungen an der Schule wehrt sich Carmela bei ihrer Rückkehr vehement, auch wenn damit ihr eigenes Verbleiben an der Schule auf dem Spiel steht. Als die Kinder um einen Klassenkameraden trauern, setzt sie sich dafür ein, dass die Mitschülerin, das Marienbildchen, das es von ihm erhalten hat, obwohl streng verboten, an der Pinwand hängen lassen kann. Und sie tut ihr Möglichstes, damit ihre beste Schülerin, die mangels Aufenthaltsbewilligung ihres Vaters wieder in die Provinz zurückgeschickt werden soll, weiter an der Schule bleiben kann.

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Kinder, verschieden und dennoch liebenswert

Was brauchen Kinder wirklich?

In ihrem «Testament», in welchem Carmela sich mit ihrem Beruf auseinandersetzt, wünscht sie für jedes Kind ein Zuhause, eine Schule, Zuneigung und Strenge. Sie spricht nicht von irgendwelchen Fähigkeiten oder Kompetenzen, von Wissen oder Können. Was sie als Lehrerpersönlichkeit in ihrem Alltag auszeichnet, ist ihre Zivilcourage, die schliesslich auch auf ihre junge Nachfolgerin überspringt. – Wäre nicht auch bei uns, fragt man sich am Ende des Films, gelegentlich Widerstand nötig gegen Entscheide von Schulpflegen, Anordnungen von Schulleitern, Verlautbarungen von Politikern oder Konzepte von Hochschulen?

Da und dort wird auch in unserem Land solcher Widerstand laut. Hier zwei zufällige, aktuelle Beispiele: In der TV-Sendung «Kulturplatz» vom 4. Januar 2015 sagt es Roland Reichenbach etwa so: Bildung soll Horizonte öffnen, ist also offen, nicht abschliessend und damit messbar. Von guten Lehrerinnen und Lehrern verlangt er, dass ihnen das, was sie unterrichten, wichtig ist, dass sie ihren Stoff gern haben, dass sie den Kindern zeigen, dass man ihn lernen kann und man den Kindern wenn nötig dabei hilft. Oder wie es Carl Bossard am 19. Januar 2015 auf der Website von «journals21» unter dem Titel «Können Kinder noch Kinder sein?» kritisch beleuchtet: «Noch vor wenigen Jahren war die Kindheit ein Schonraum. Kinder konnten Kinder sein. Das hat sich gründlich geändert. Das ist der Effekt breiterer Bildung und erweiterter Bildungstitel: Es wird enger, das Aufstiegsgeschiebe massierter, der „Fahrstuhl nach oben“ unsicherer. Je mehr Kinder Zugang zu Bildung bekommen, desto kleiner wird der Kuchen, der zu verteilen ist. Da gibts für bildungsambitionierte Eltern nur eines: die eigenen Kinder noch konsequenter fördern – und noch früher beginnen.»

Der etwas unsinnliche Filmtitel «Conducta» (Benehmen) meint das Verhalten, das Wirken, das Tun und Lassen, das Leben und das Vorleben durch die Lehrperson. Nicht das Ende ist wichtig, sondern der Anfang: der Einstieg ins Leben. Das aber gilt nicht nur für die Kinder in Havanna, in Zürich oder Langental, sondern auch für die Erwachsenen hier wie dort und überall auf ihren Lebenswegen.

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Jugendliche auf ihren Wegen in die Welt

Kubanische Lebensfreude

Wer schon mal in Kuba war, wird sich an die Lebensfreude der Menschen erinnern, die dort auf Schritt und Tritt zu erfahren ist, trotz Armut, Korruption und Misswirtschaft. Etwas davon bringt der Film von Daranas zu uns. «Conducta» zeigt eine positive Vision seines Landes, ohne die offensichtlichen Missstände zu verschweigen, zeigt die Errungenschaften, aber auch die Fehlentwicklungen der kubanischen Revolution. Er verbindet Sozialkritik mit Gefühlskino.

Seit «Fresa y Chocolate», «La vida es silbar» und «Un amor» hat kein Film aus dem mittelamerikanischen Land so mitreissend vom Leben auf den lichtdurchfluteten Strassen Havannas erzählt wie dieser und gleichzeitig im Land für viel Aufruhr gesorgt. Mit Action und Humor kommen die Botschaften aus einem Land zu uns, wo es mit den Schulen ebenfalls nicht zum Besten steht. Ob uns diese Menschen mit ihrer Menschlichkeit, ihrem Lebensmut und ihrer Lebensfreude nicht eine Menge zu sagen haben?

Die erfrischend natürlich gespielten Szenen aus einem Milieu der Armut, Gewalt und politischen Versteinerung lassen vielleicht auch unsere Versteinerungen durch die Akademisierung der Bildung etwas auftauen. Beim kubanischen Publikum war «Conducta» 2014 der meist gesehene, heiss geliebte und heftig diskutierte Spielfilm. Ein Herzensbrecher, hoffentlich bald auch bei uns.

Anmerkungen von Ernesto Daranas, dem Regisseur von «Conducta»

Die Erziehung ist für jedes Land von grundsätzlicher Bedeutung. Wie die Bildung in einem Land strukturiert ist, auf welche Kriterien sie sich stellt, bestimmt zu einem grossen Ausmass die Gesellschaft, die wir in der Zukunft haben werden. In Bezug auf Kuba interessierte uns besonders die Aufgabe der Lehrkraft im ursprünglichen Sinn. Der Lehrer oder die Lehrerin ist jemand, der das Wissen einer bestimmten Materie vermitteln kann; der umfassende Pädagoge gibt darüber hinaus Werte und Gefühle weiter, was im Film über die Figur von Carmela aufgegriffen wird. Dieser Typ von Schullehrer ist weltweit in der Krise, wie wir feststellen konnten. Bildungssysteme gründen heute Mechanismen, die zwar in jedem Land eine eigene Ausprägung haben, diese Funktion aber tendenziell zunehmend beschneiden. Im Interesse der einzelnen Gesellschaft werden eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die den Handlungsspielraum des klassischen Lehrers immer mehr einschränken.

Natürlich erhält dieses System in Kuba einen ganz eigenen Zuschnitt, und natürlich spielen soziale Bedingungen eine Rolle. Unser Land lebt seit quasi 25 Jahren in einer permanenten Wirtschaftskrise, das hinterlässt Spuren und hat Auswirkungen vor allem auf die junge Generation, und da zuallererst auf Kinder aus einfachen Verhältnissen, darauf, wie sie das Leben anpacken. Oft gibt es zuhause Probleme und drängen wirtschaftliche Nöte. Gerade sie sollten in der Schule nicht nochmals auf solch negative Mechanismen stossen, sondern – das wäre wünschenswert und wichtig – auf jemanden wie Carmela.

Der Film basiert auf realen Erlebnissen, denn wir haben ausgiebig Feldforschung betrieben. Wie überall trafen wir auf die unterschiedlichsten Lehrertypen: auf gute, durchschnittliche und schlechte, auf junge und alte, und haben festgestellt, dass auch Lehrer im Format von Carmela noch anzutreffen sind, die sich mit widrigen Umständen auseinandersetzen, nicht verstanden werden oder auf Dogmatik und schematisches Denken treffen. Demgegenüber kann man sich nur auf Traditionen berufen, Werte entgegenhalten, die menschlich sind und ewig Bestand haben. Unser Bildungssystem hat Vor- und Nachteile wie überall, nur wird hier durch die wirtschaftliche Krise alles zugespitzt.

Ich hatte alle Freiheiten und musste nicht einmal das Drehbuch vorlegen, um mit dem Drehen beginnen zu können. Der Film war von Anfang an als lebendiges, unfertiges Projekt deklariert, das sich nach und nach aus den laufenden Erfahrungen der Studierenden und der Kinder heraus entwickeln würde. Kinder notabende, die eben aus ärmlichen Verhältnissen stammen und viele Anekdoten und Erfahrungen einbrachten. Auch die Lehrer und Lehrerinnen, mit denen wir arbeiteten, trugen Wertvolles bei. Carmela ist inspiriert von den Erfahrungen dreier verschiedener Lehrerinnen, die im Film in dieser einen Figur zusammenfliessen. Was man in Conducta sieht, widerspiegelt ihre Realität. Wir waren nie mit einer Bemerkung oder Beanstandung konfrontiert, zugegebenermassen machten wir uns jedoch Gedanken darüber, wie die aufgezeigten Themen aufgenommen würden, die doch aus einem dokumentarischen Prozess hervorgegangen waren. Man war sich einig, dass es zwar ein harter Film sei, aber eben auch ein ehrlicher. In diesem Sinn wurde er gut aufgenommen, und ja, hat Polemik hervorgerufen und Diskussionen ausgelöst, was ich als positiv erachte. Wir haben es nötig, Ideen auszutauschen und Denkformen, wir müssen uns mit anderen, neuen Konzepten auseinandersetzen ebenso wie mit den traditionellen, der Essenz unserer Nationalität.

Titelbild: Chala, bewegt und bewegend

Regie: Ernesto Daranas, Produktionsjahr: 2014, Länge: 108 min, Verleih: trigon-film.org

Am 28. Februar, 20.30, ist der Regisseur Diego Lerman im Kellerkino Bern, am 1. März, 11.00 im Kino Odeon in Brugg und am 2. März, 18.30, im Riffraff für ein Gespräch anwesend.