A Separation
2010 in einer modernen, mittelständischen Familie in Persien: Simin möchte den Iran verlassen und ihrer Tochter eine bessere Zukunft bieten, ihr Mann Nader will bleiben und seinen alzheimerkranken Vater nicht allein lassen. Sie reicht die Scheidung ein und zieht in die Wohnung der Eltern, als die Klage abgewiesen wird. Die Tochter bleibt vorerst beim Vater und hofft, dass die Mutter wieder nach Hause kommt. Für die Betreuung des Kranken engagiert Nader die gläubige Muslimin Razieh, wovon ihr Ehemann nichts weiss. Als der Hausherr von der Arbeit nach Hause kommt und seinen verwirrten Vater allein in der Wohnung findet, kommt es zum Eklat. In der Folge werden Leben und Beziehungen aller vier Protagonisten aufgewühlt und durchgeschüttelt. «Unser Leben ist zur Hölle geworden», meint Simin zu Razieh nach langwierigen und intensiven Auseinandersetzungen, und nachdem das Publikum erneut hofft, eine Lösung rücke in greifbare Nähe. Doch der Streit geht weiter, kompliziert und auswegloser denn je.
Nur selten schlägt ein Film das Publikum dermassen in seinen Bann wie «A Separation – Nader and Simin», der fünfte Film des persischen Regisseurs Asghar Farhadi. Trotz alltäglichem Plot und ohne Action à la Hollywood birst der Film beinahe vor innerer Dynamik. Es geht um das leidenschaftliche Bewahren der Identität von zwei und schliesslich vier Menschen beim Abwägen aller Wünsche und Bedürfnisse – beobachtet und erlitten von der 12-jährigen Therme und der 6-jährigen Somayeh, der Töchter von Simin respektive Razieh. Die Story erinnert an Ingmar Bergmans grossen Film «Szenen einer Ehe» aus dem Jahr 1973, wobei der neue persische Film, in meinen Augen, noch vielschichtiger, dramatischer und gleichzeitig realistischer ist.
Zwischen den beiden Paaren steht hier ein Scheidungsrichter, der mit Gesetzen versucht, Klärung zu schaffen, Wahrheit zu finden, Recht zu sprechen. Aus dem Trennungsdrama wird ein Politthriller, und das Private wird unversehens politisch. Zum Auftakt sehen wir den Mann und die Frau vor dem Richter ihre unterschiedlichen Standpunkte darlegen, wir sitzen ihnen frontal gegenüber und nehmen die Haltung des Richters ein, der das Geschehen beobachten und schliesslich urteilen muss. Kaum je habe ich im Kino eine Trennungsgeschichte so hautnah und authentisch erlebt. Selten hat es ein Regisseur geschafft, die Betrachtenden gleichermassen einzubinden und dabei die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen, wenn eine neue Erkenntnis dies verlangt. Immer wieder tauchen Argumente und Gegenargumente auf in diesem seelischen Catch-as-Catch-Can und verunmöglichen klare Schuld- oder Unschuldzuweisungen. Keiner der Protagonisten bekommt die Rolle des Guten oder der Bösen. Jeder und jede verfügt über seine und ihre Wahrheiten, was dem Film eine globale Dimension verleiht, die über das Lokale, das Persische hinaus weist. Was geschieht mit Beziehungen, wenn sie nicht mehr das halten können, was sich zwei Liebende einmal versprochen haben? Wie trennt man sich in Würde und auf eine Weise, dass alle Beteiligten damit leben können? Was heisst das für die Kinder? Wie geht die Gesellschaft damit um?
Existentiell wie «Rashomon» von Akira Kurosawa
Mit Gespür für dramaturgische Details, mit Sinn fürs Inszenieren in engen Räumen, mit Feingefühl und Respekt für jede einzelne Figur und mit messerscharfer Rhetorik der Agierenden erzählt Asghar Farhadi eine Geschichte, in der wir uns an vielen Stellen wiedererkennen. Unsere Wahrnehmung bietet – dies eine Erkenntnis aus diesem Film – nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was ist und was geschieht, was geschrieben und gesprochen, was gehört und gesehen wird, was wir jedoch schliesslich für wahr nehmen. Mit kleinsten Verschiebungen der Perspektive, mit zusätzlich auftauchenden neuen Informationen nehmen wir bisher klar scheinende Tatsachen plötzlich anders wahr. Und da auch die Justiz in diesem Konflikt nicht anders funktioniert, bekommt die Geschichte eine mehr als individuelle, eine existenzielle Dimension. Es stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, respektive Unmöglichkeit, die Wahrheit überhaupt zu erkennen – weshalb der Film auch mit einem eindrücklichen Schlussbild offen endet.
1950 schuf der Japaner Akira Kurosawa mit «Rashomon» den bisher berühmtesten Film zu diesem Thema, in der Form einer Parabel. Farhadis Film wirkt, nach meiner Einschätzung, im Gegensatz zum japanischen inhaltlich vielschichtiger, emotional fiebriger und dramaturgisch eindringlicher. «A Separation» ist der moderne Film über die Unvollkommenheit der menschlichen Wahrnehmung, die zu verschiedenen Schlüssen bei derselben Situation führen kann. Der (konstruktivistische) Ansatz, «dass wir die Wahrheit selber machen», wird hier durchgespielt und bewiesen. «Ich glaube, dass die heutige Welt mehr Fragen als Antworten braucht, denn Antworten halten einen davon ab, selber nachzudenken», gibt uns Ashgar Farhadi mit auf den Weg zum Weiterdenken, das er uns aufträgt.