Das Mädchen vom Änziloch

Erwachsen werden bei den Köhlern beim Änziloch: Der Film «Das Mädchen vom Änziloch» von Alice Schmid schildert die Arbeit der letzten Köhler Europas und vor allem aber das Erwachsenwerden des 12-jährigen Mädchens Laura: eindrücklich und schön.
Das Mädchen vom Änziloch

Laura entdeckt die Umwelt und gleichzeitig ihre Innenwelt

Als einzige Tochter und jüngstes Kind einer grossen Bauernfamilie im Luzerner Hinterland lebt Laura meist allein mit ihren Träumen und Ängsten, besonders in den Sommerferien, wenn die Kinder der Gegend sich nicht in der Schule treffen, sondern auf den Höfen und Feldern arbeiten. Sie selbst hilft ihrer Familie mit beim uralten Handwerk des Köhlers, das in Europa nur noch hier ausgeübt wird. Diese Arbeit, den glühenden Hügel aus Holz über Wochen auf der richtigen Temperatur zu halten, verlangt Umsicht und Geduld. Auch von Laura, die es liebt, nach getaner Arbeit mit ihrem Vater im Freien neben dem Kohlehügel zu übernachten, wo sie keine Albträume hat wie sonst. Auf dem Hof sorgt sie für die Tiere und schaut zu, wenn Vater und Brüder diese schlachten: das Kaninchen mit dem weichen Fell und das Pony, dessen verletztes Bein nicht heilt.

Darüber wird in der Familie nicht gesprochen, weshalb Laura das Erlebte ihrem Tagebuch anvertraut, in welchem sie auch festhält, dass sie sich nach einem Freund zum Reden sehne. Mit einem Fernglas beobachtet sie, mikroskopisch genau, die nahe und ferne Umgebung, entdeckt dabei aber auch ihr Inneres, ihre Wünsche und Hoffnungen. Ihre Fantasien kreisen vor allem aber um das sagenumwobene Änziloch, eine steile, 200 Meter tiefe Felsenschlucht, die von allen gemieden, schon im Sprechen darüber verdrängt wird. Fasziniert geht sie immer wieder an den Rand des Abgrundes, um den Geräuschen zu lauschen, die aus der Tiefe kommen. Niemand im Dorf will genau wissen, wer sich wirklich im Änziloch befindet und was dort abläuft. Die Alten und die Jungen begnügen sich mit Vermutungen, Laura will es wissen.

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Das im Leben von Laura entscheidende Änziloch

Das Änziloch – ein Ort gesellschaftlicher Projektionen

Einheimische meiden das sagenumwobene Änziloch. Es scheint ihnen unheimlich. Im Winter bilden sich dort Eiszapfen an der Felswand, im Frühling «tätschts und chlöpfts det hinde». Hier sei schon allerhand passiert, sagen sie, doch niemand will so recht mit der Sprache rausrücken. Sie scheinen zwar mehr zu wissen, als sie zugeben, stellen jedoch bloss Vermutungen an. Früher war es eine Schande, wenn ein Mädchen schwanger wurde, man hat es an solche Orte verbannt. Die Alten beten noch heute jeden Dienstag in der Kirche den Rosenkranz, damit die Geister dort unten ihre Ruhe finden. Doch niemand wagt es, hinunterzusteigen. Denn wer das tut, sagt man, habe danach wochenlang einen geschwollenen Kopf.

Projektionen: «Früher sagten wir, ich verwünsche dich ins Änziloch.» Man kennt hier niemanden, der schon unten war. «Ich habe mal etwas gehört, ein Vater habe sein Mädchen dort hinunter verbannt. Vielleicht hatte sie ein «Gschleipf». Es scheint, die Änziloch-Jungfrau komme bei Vollmond aus dem Loch und kämme sich die Haare.» Ein anderer meint: «Wir gehen jedes Jahr ins Änziloch zum Heuen. Früher nahm ich die Kinder mit. Abends bekamen sie hohes Fieber. Sie sagten, jemand nehme ihnen den Atem. Vater hat erzählt, als er mit dem Pferd dort unten holzen ging, weigerte sich dieses, weiterzugehen, es stand auf die Hinterbeine und schäumte aus dem Mund.» Und eine Frau vermutet: «Früher war es eine Schande, wenn ein Mädchen schwanger war. Man hat diese an solche Orte verbannt. Es gibt ja keine Zufahrt und nichts.» Andere sagen: «In diesem Änziloch ist allerhand passiert, was man da alles hört. ... Dort unten haben sie mal ein Kind begraben. Die Mutter war vermutlich nicht katholisch, und das Kind nicht getauft. ... Möglich ist alles. Dort könnte man schon jemanden einsperren, ohne dass jemand es merkt. ... Man sagt ja, man könne die Jungfrau nicht sehen. Aber die Pferde schon: Es war ein todsicheres Reitross. Immer am selben Ort machte es einen Sprung das Bord runter. Gesehen hat man nichts. Warum es das gemacht hat, weiss ich nicht. Deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass im Änziloch etwas ist.» Doch Laura meint, es sei ein Armutszeugnis, dass sie selber noch nie unten war. Sie müsste einen Helm anziehen, vielleicht käme sie mit, wenn der Förster dabei wäre. Alles in allem Vermutungen, Befürchtungen, Projektionen. Viele leben damit, glauben die Geschichten.

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Laura mit Tohm, Lauras Freund auf Zeit

Porträt eines Mädchen in der Pubertät – eine psychologische Studie

Nach mehr als zwanzig Jahren Abwesenheit ist die Regisseurin Alice Schmid, eine gebürtige Romooserin, zum Änziloch, mitten in der Biosphäre Entlebuchs, zurückgekehrt. Ein Gespräch mit ihr anlässlich der Premiere ihres letzten Filmes erzählt von jener Zeit. Nachdem sie Filme über Kinder in Afrika, Asien und Südamerika gedreht hatte, entstanden 2011 der Roman «Dreizehn ist meine Zahl» und der Dokumentarfilm «Die Kinder vom Napf» in ihrer Heimat. In einem ähnlichen Umfeld, mit den gleichen zauberhaften Landschaften und uralten Traditionen, auf einem ziemlich heruntergekommen Hof und dem sagenumwobenen Änziloch in dessen Nähe spielt der neue Film und lässt ein ganz spezielles Universum aufleben.

Zusätzlich zur aktuellen Aussenansicht einer Gegend bietet der Film eine eindrückliche Innenschau des Mädchens Laura in der Pubertät. Als der Junge aus der Stadt zum Landdienst auf den Hof kommt, bekommt Laura zum ersten Mal in ihrem Leben einen Vertrauten. Sie zeigt dem 14-jährigen Thom ihre Welt und spricht mit ihm darüber. Den Legenden um das Änziloch, in die sie ihn einzuweihen versucht, steht der aufgeklärte Junge aus Luzern jedoch skeptisch gegenüber. Aus der Begegnung mit ihm lernt sie Neues über die Welt und über sich selbst. Sie wird sicherer, selbstbewusster und mutiger. Als er nach Hause abreist, ist sie zwar enttäuscht, verarbeitet die Erfahrung jedoch, indem sie sich mit den andern Mitgliedern der Familie in die Arbeit stürzt. Wieder allein mit ihren Fragen und Ängsten wagt sie sich nun auch noch in die Dorfgemeinschaft und nähert sich einer Nonne, die in ihrer Jugend als Einzige im Änziloch gewesen sein soll. Laura wird erfinderisch und unerschrocken, bis sie schliesslich allein ins Änziloch hinuntersteigt.

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Wie alle andern, so muss auch Laura zupacken.

Die letzten Köhler und ein mutiges Mädchen – eine poetische Geschichte

Mit ihrem Dokumentarfilm «Das Mädchen vom Änziloch» knüpft die Autorin und Regisseurin Alice Schmid an ihren Roman und ihren letzten Film über das Leben in den abgelegenen Hügeln des Napfgebiets an, der in den Deutschschweizer Kinos ein Erfolg wurde und nach seiner internationalen Premiere an der Berlinale um die Welt reiste.

Im Zentrum des neuen Films steht Laura, Larissa, Rösli, eines der fünfzig Kinder, die Alice Schmid für ihren letzten Film ein Jahr lang begleitet hat. Mit ihrem Gespür für Kinder hat sie nun das Porträt eines Mädchens geschaffen, das in einer isolierten Welt lebt und von niemandem wirklich ernst genommen wird. Lauras Fantasien und Ängste werden im Film jedoch hör- und seh-, versteh- und fühlbar. Laura, die Titelfigur, macht hier eine entscheidende Erfahrung fürs Leben. Gleichzeitig ist der Regisseurin das Porträt von Bauern, vor allem einer Familie, gelungen, die als letzte in Europa als Köhler arbeitet, indem sie von Frühling bis Herbst in einem Kohlenmeiler Holz zu Holzkohle verschwelen lässt.

Regie: Alice Schmid, Produktion: 2016, Länge: 87 min, Verleih: Impuls Pictures