Das weisse Band

Der Film «Das weisse Band» von Michael Haneke handelt von einem Dorflehrer, Buben und Mädchen, ihren Eltern, einem Gutsherrn und einem Gutsverwalter, einem Pfarrer, Arzt, einem Bauern und einer Hebamme in einem Dorf im Norden Deutschlands kurz vor dem Ersten Weltkrieg. – Es bietet sich an, den Film als Abrechnung mit der «schwarzen Pädagogik» zu verstehen.

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Da geschieht ein seltsamer Unfall. Später folgen weitere. Die Bevölkerung bleibt ratlos. Nach und nach nehmen die Ereignisse den Charakter ritueller Bestrafungen an. «Was steckt dahinter?», fragen sich die Menschen. In den Familien herrscht zu dieser Zeit ein rigides System. Die Kinder grüssen ihren Papa mit Handkuss und sagen zu ihm «Herr Vater». Doch Herr Vater ist mehr Herr als Vater, ein unnahbarer Patriarch mit unumstösslichen Vorstellungen von Erziehung.

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In dieser Geschichte, die um 1913/14 in einem protestantischen Dorf handelt, bindet der Herr Pastor seinen Kindern «das weiße Band» um den Arm, wenn sie masturbiert haben. Eine pädagogische Maßnahme, welche die Kinder jede Sekunde an ihre verlorene oder gefährdete Unschuld erinnern soll. In Wirklichkeit ist das Band Symbol für Schuld und Sünde, eine weithin sichtbare Demütigung.

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Die meisten Filme des Österreichers Michael Haneke handeln von Schuld und Gewalt. Hier sind die Kinder die Opfer ihrer Väter, doch sie werden gleichzeitig zu Tätern. Ein Vogel wird gekreuzigt, ein Pferd grausam zu Fall gebracht, ein behindertes Kind verletzt. Dass das geschlagene Kind wiederum schlägt, hat Alice Miller längst überzeugend bewiesen. Im Gegensatz zu früheren Filmen setzt der Autor hier nicht auf Schock, sondern auf eine unheimliche Beunruhigungen. Es ist ein Film über die dogmatische Erziehung, ob katholisch oder evangelisch, links oder rechts, und deren Folgen. Ob diese nur, wie im Film, in der wilhelminischen Zeit herrschte, können wir im eigenen Alltag eruieren.

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Es werden, wie immer bei Haneke, Fragen gestellt, jedoch keine Antworten gegeben. «Ein Film ist wie eine Sprungschanze. Springen muss der Zuschauer selbst», meint der Autor. Vordergründig mag «Das weisse Band» milder dahergekommen als frühere (etwa «Die Klavierspielerin», «Caché», «Benny’s Video» oder «Funny Games»). Der Abgrund dahinter ist umso düsterer. Die schwarz-weißen Bilder dieses fast zweieinhalbstündigen Werkes zeigt eine Zeit, die wir als schwarz-weiße kennen. Er zeigt die Menschen in ihrem fremden Verhalten, dass wir stets beunruhigt bleiben, fragen und suchen: Warum? Weshalb?

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Der ganze Film ist, versucht man ihn zu deuten, eine erschütternde Bestandesaufnahme der «Schwarzen Pädagogik», welche – nach Katharina Rutschky – auf die Installation eines gesellschaftlichen Über-Ichs im Kind, auf die Heranbildung einer grundsätzlichen Triebabwehr in der jugendlichen Psyche, die Abhärtung für das spätere Leben, die Instrumentalisierung von Körperteilen und Sinnen zugunsten gesellschaftlich definierter Funktionen abzielt.

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Unausgesprochen dient sie der Rationalisierung von Sadismus und der Abwehr eigener Gefühle bei Erziehern und beim Kind. Sie dient als der Verinnerlichung einer Todesdrohung, der Hinzufügung von körperlichem und seelischem Schmerz, der totalitären Überwachung des Kindes durch Körperkontrolle, Verhalten, Gehorsam und Verbot der Lüge, der Tabuisierung der Berührung mit Hilfe eines abstrakten Erziehungsapparates, der Versagung grundlegender Bedürfnisse und eines zwanghaften Ordnungsfanatismus.

Inwiefern diese Psychoanalyse einer Gruppe – Haneke war ursprünglich Psychologe – Hinweise für das liefert, was sich anschliessend im Land ereignet hat, inwiefern Individuum und Gesellschaft voneinander abhängen, inwiefern der Nazismus zwanzig Jahre später etwas damit zu tun hat, all das sind Fragen, die einem auftauchen und nicht mehr loslassen. Beunruhigung als Prinzip! Dieser Film stellt für mich einen gewichtigen Beitrag dar zu einem immer wieder neu zu führenden gesellschaftlichen Diskurs. Er wurde dieses Jahr in Cannes zu Recht mit der «Goldenen Palme» ausgezeichnet.