Der Imker

Bienen und andere Völker: Nach «Unser Garten Eden» über das Leben in den Schrebergärten, erzählt Mano Khalil in «Der Imker» die Geschichte des Bienenzüchters Ibrahim Gezer – und erhielt dafür den «Prix Soleure» 2013.

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Ibrahim blickt mit seiner Tochter zu einem entflohenen Bienenstamm.

Ibrahim Gezer hat in seiner kurdischen Heimat alles verloren: seine Frau, zwei seiner Kinder und mit seinen über fünfhundert Bienenvölkern auch die Lebensgrundlage. Geblieben sind ihm nur die Liebe zu den Bienen und das unerschütterliche Vertrauen in die Menschen. Nach einer langen und entbehrungsreichen Odyssee schöpft Ibrahim Gezer in der Schweiz neue Hoffnung und findet dank seiner Leidenschaft für die Bienenzucht und dank verständnisvoller Menschen, denen er begegnet, zum Leben zurück.

Was der kurdische Regisseur in diesem Film erzählt, ist die berührende Geschichte der sich langsam entwickelnden Integration eines Ausländers in die schweizerische Gesellschaft, mit Rückschlägen und Problemen. Doch gerade die Widerstände und Missverständnisse, die Khalil ausleuchtet und thematisiert, machen seine Qualität aus. Wie so oft bei komplexen Themen gibt es auch hier nicht die Lösung, sondern nur immer neue Teil-Lösungen. Das Thema, das in diesem kleinen Film angespielt wird, dürfte wohl das Thema unseres Jahrhunderts sein: die existenzielle Fremdheit durch die Migration, darauf folgend die Integration oder Segregation grosser Menschenmassen und dahinter die weltweite Völkerwanderung, die wir nicht wegschwatzen können. – Mutig und klug war der Entscheid der Solothurner Jury mit der Filmemacherin Stéphanie Chuat, dem Politiker Dick Marty und der Journalistin Michèle Roten, den Film unter dem Gesichtspunkt der Humanität mit dem diesjährigen Preis auszuzeichnen.

Laudatio Prix de Soleure 2013

«Unter Humanismus versteht man eine Weltanschauung, die sich an den Interessen, den Werten und der Würde des einzelnen, individuellen Menschen orientiert», so steht es im Reglement für die Vergabe des «Prix de Soleure». Die Jury freut sich, einen Film prämieren zu können, auf den diese Definition mehr als trefflich anwendbar ist.

Der Film zeichnet sich aus durch eine enorme Positivität, durch einen alles durchdringenden Optimismus und den unerschütterlichen Glauben in den Menschen – was umso bemerkenswerter ist, als dass es sich beim Schicksal des Protagonisten um eines handelt, in dem die Opfer- und Täterrollen durchaus deutlich auszumachen sind. Doch nie wird beschuldigt, nie gehasst, Ressentiments finden keinen Platz in diesem Film. Der liebevolle Blick auf den Menschen ist hier Thema, aber gleichzeitig auch erzählerische Haltung.

Mit nur einem Protagonisten gelingt es dem Regisseur, eine multidimensionale Struktur zu erschaffen, anhand derer die Themen eines Menschenlebens erforscht werden – Familie, Freundschaft, Heimat, Arbeit, Sehnsucht, Leidenschaft – ohne dabei jemals ins Pathetische oder Allzu-Intime abzurutschen. Die Hauptfigur strahlt eine eigentümliche Poesie aus, der man sich kaum entziehen kann; es ist das Porträt eines Menschen, der mit seiner Art, mit dem Leben umzugehen – irgendwo zwischen Demut und Ironie – eine prägnante und gleichzeitig berührende Botschaft übermittelt.

Es ist auch ein Film, der dem Zuschauer eine Schweiz zeigt, wie man sie vielleicht zu selten sieht: nicht nur landschaftlich wunderschön, sondern auch voller Offenheit und Warmherzigkeit und mit einem zwar umständlichen, aber letztlich doch effizienten und vor allem menschlichen Staat.

Die Bienen haben Ibrahim Gezer sein Leben lang begleitet und es ihm sogar gerettet. Und sie bringen weiterhin Glück: Der Prix de Soleure 2013 geht an Mano Khalil für seinen Film «Der Imker».

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Ibrahim Gezer: von Angesicht zu Angesicht mit uns

Der Regisseur Mano Khalil zum Film

Einem Menschen kann man vieles wegnehmen: seine Familie, sein Vermögen, sein Land, seine Freiheit, aber nicht seine Träume. Diese gehören ihm und bleiben selbst im dunkelsten Verlies lebendig. Meine Träume sind Teil meines Lebens. Sie leben mit mir, weinen und lachen mit mir. Sie wachsen mit mir und verändern sich, so wie ich mich verändere. Sie beginnen und enden mit mir, sie sind meine Wegweiser, sie sind ich.

Als kleiner Junge in einem gottverlassenen kurdischen Dorf in Syrien träumte ich davon: bis spät in die Nacht hinein mit den anderen Dorfkindern spielen können und am nächsten Morgen nicht früh aufstehen müssen, um die Lämmchen auf die Weide zu bringen. In der arabischen Primarschule schlug mich mein Lehrer einmal so hart mit dem Lineal auf die Hände, dass ich tagelang nichts mehr berühren konnte. Denn ich benutzte das Wort Brot auf kurdisch anstatt auf arabisch – die kurdische Sprache ist in Syrien bis heute verboten. Damals träumte ich davon, ein Superman zu sein, der blitzschnell durch das Fenster ins Klassenzimmer fliegt und dem Lehrer eine Lektion erteilt.

An der Uni in Damaskus, wo ich Geschichte und Jura studierte, bemerkte ich, dass das syrische Baath-Regime die Geschichte und den Gerechtigkeitsbegriff gemäss seinen eigenen politischen Zielen interpretierte. Nun bestand mein einziger Traum darin, dieses ungerechte Land zu verlassen und Filmregisseur zu werden. Ich wollte durch meine Arbeit die unbekannte Geschichte Syriens erzählen und offen über Gerechtigkeit sprechen. An der Filmhochschule in der ehemaligen Tschechoslowakei, an der ich Filmregie studierte, hatte ich folgenden Traum: Ich wollte nach dem Studium in mein Land zurückkehren, dort grossartige Filme drehen und damit Cannes, Berlin, Venedig oder Moskau erobern. Ich träumte davon, mich als der «König der Welt» zu fühlen.

Zurück in Syrien musste ich wegen meines ersten Filmes, den ich über die Kurden in Syrien gedreht hatte, flüchten. So befand ich mich in einem Asylzentrum in der Schweiz, als James Cameron sich bei der Oscar-Verleihung als «König der Welt» bezeichnete. Zu diesem Zeitpunkt war mein grösster Traum nicht mehr, der «König der Welt» zu werden, sondern einfach meine Kamera wieder mal in die Hand nehmen zu dürfen. Doch trotz aller Schwierigkeiten habe ich meine Träume nie aufgegeben. Darin ähnelt mir Ibrahim Gezer. Auch er hat trotz der Widrigkeiten seines Lebens nie die innere Kraft zum Weitermachen verloren, ist optimistisch geblieben und hat seine Träume nicht aufgegeben. Seine langjährige Odyssee ist zwar physisch und psychisch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er ist aber weder hart noch unmenschlich geworden, sondern versucht, sich selbst treu zu bleiben und seinen Platz in der Schweizer Gesellschaft zu finden. Und seine Bemühungen wurden von Erfolg gekrönt: Heute übt er wieder diejenige Tätigkeit aus, die ihm am meisten Freude bereitet, nämlich das Bienenzüchten. Das ist der zentrale Grund, wieso ich die Geschichte von Ibrahim Gezer erzählen möchte.

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Am Schluss auch in der Schweiz in seinem Element

Der Protagonist Ibrahim Gezer (Îrbo)

Ibrahim Gezer (Îrbo) wurde am 10. Februar 1946 im Dorf Hasanalili im türkischen Teil Kurdistans, in der Provinz Maraasch geboren. Als er vier Jahre alt war, starb sein Vater als Soldat in der türkischen Armee. Für seine Mutter war es in jener Zeit unmöglich, ihn und seine Schwester Elifa alleine grosszuziehen. So wurden die beiden den Grosseltern übergeben und wuchsen als Waisenkinder bei ihnen auf. «Ich war der Liebling meines Grossvaters. Zu meiner Beschneidungsfeier schenkte er mir ein Kilo Honig. Als Kinder sprachen wir manchmal über Honig. Einige Kinder sagten: «Wir haben es gesehen», andere sagten, «wir haben es schon mal probiert.» Nicht alle konnten sich Honig leisten. Es gab kaum Honig. Ich bat meinen Grossvater darum, mir Bienen zu kaufen. Mein Grossvater tauschte ein Schaf gegen zwei Bienenvölker.» Er konnte seine Frau und die elf Kinder problemlos damit ernähren. Denn Ibrahim Gezer hatte in den besten Jahren mehr als fünfhundert Bienenvölker. «In meiner Gegend war ich der Erste, der professionell Bienen züchtete. Ich brachte es auf bis zu 500 Völker. Je nach Jahr produzierten sie zwischen 10 und 18 Tonnen Honig.»

Seine Kinder gingen alle zur Schule und sollten eines Tages an der Uni studieren können. Für diesen Traum hat Ibrahim hart gearbeitet. Bis zu dem Tag, an dem all seine Lebenspläne wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Der schwelende Konflikt zwischen kurdischen Rebellen und türkischer Armee spitzte sich in den 1990er Jahren massiv zu. Die türkische Armee ging brutaler als bis anhin gegen die Rebellen vor – dabei kamen auch viele unschuldige Menschen sowie Journalisten, Künstler und Politiker um oder verschwanden spurlos. Eine dunkle Wolke von Terror und Gewalt überschattete die ganze Region Kurdistan. Ibrahim Gezers Dorf lag inmitten der kurdischen Berge, die zum Schauplatz des bewaffneten Konflikts geworden waren. Doch in seinem Dorf war die kurdische Frage selten ein Thema. Herr Ibrahim sah sich zwar klar als Kurde, seine Leidenschaft galt aber nicht der Politik, sondern seiner Familie, den Bienen und den Bergen. In den Bergen lernte Ibrahim Gezer Kämpfer der PKK kennen. Sie erzählten ihm viel über Freiheit, die Unterdrückung des kurdischen Volkes und das Recht, die kurdische Muttersprache zu sprechen und in der Schule zu lernen. Herr Ibrahim war beeindruckt von den jungen Leuten, die für sein Land und sein Volk kämpften, und lud sie zu sich nach Hause ein. Fortan besuchten die jungen Kämpfer Ibrahims Familie immer wieder und übernachteten auch bei ihnen. Ibrahim Gezers Tochter Elifa liess sich von den Idealen und Träumen der Besucher begeistern und trat 1993 der PKK bei. Sie wurde bald darauf von der türkischen Armee getötet.

«Als meine Tochter zur Guerilla ging und dort umgebracht wurde, hat mich das türkische Militär verhaftet. Sie haben mich lange gefoltert und verlangt, dass ich ihr Spitzel werde. Ein Offizier drohte mir: «Ibrahim, wenn du nicht für uns arbeitest, schiesse ich dir beim nächsten Mal eine Kugel in den Kopf und behaupte, du wärest ein Terrorist gewesen.» Als sie mich dann später erneut suchten, bin ich geflüchtet. Sieben Jahre lang habe ich mich versteckt.» In den folgenden Jahren brach die Familie unter den gewaltvollen Ereignissen und dem Druck der türkischen Armee auseinander. Sein Haus wurde unzählige Male kontrolliert und gestürmt, sein Lastwagen beschlagnahmt, seine Bienen getötet. Ein weiterer Sohn, Ali, der an der Universität in Istanbul studierte, wurde verhaftet. Nach seiner Freilassung ging er zur Guerilla und trat den PKK-Kämpfern bei. Seither fehlt von ihm jede Spur. Ibrahims Frau blieb mit den Kindern alleine zurück. Die Situation der Familie änderte sich brutal: Aus der grossen, glücklichen, wohlhabenden Familie des Bienenzüchters Ibrahim war eine verzweifelte Mutter mit unzähligen Kindern geworden, die in Armut lebten.

«Jede Nacht kam die Polizei in unser Dorf. Sie riefen meine Familie nach draussen und durchsuchten das Haus. Meine Frau sagte ihnen immer, ich sei nicht da. Ihre Antwort war: «Das wissen wir selber, aber wir durchsuchen euer Haus trotzdem.» Sie wollten uns aus dem Dorf vertreiben. Um sich vor den Repressionen der Behörden zu schützen, verliess die Familie schliesslich das Dorf und zog in die anonyme Grossstadt Istanbul. Ibrahim Gezer war wie vom Erdboden verschluckt. In Istanbul wurden Ibrahims Söhne Tacim und Shekho unter dem Vorwurf verhaftet, sie seien wie ihre Geschwister für die PKK tätig. Diese Situation brachte für die Mutter das Fass zum überlaufen: Sie hatte ihre Heimat, ihren Mann und vier ihrer Kinder verloren. Verzweifelt sprang sie aus dem Fenster des Wohnhauses und starb unmittelbar.

Die Kinder waren nun auf sich selbst gestellt. Die Söhne Önder und Hassan flüchteten nach England, wo sie bis heute als anerkannte Flüchtlinge leben. Die restlichen sieben Kinder blieben ohne Mutter, ohne Vater, ohne irgendeine Perspektive in Istanbul zurück. Schliesslich konnten sie mithilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes in die Schweiz einreisen, wo sie alle Asyl erhielten. Während sieben Jahren lebte Ibrahim Gezer mit gefälschten Ausweisen, versteckte sich mal in den Bergen, mal bei Freunden und Bekannten. Nun dauerte es nicht mehr lange, bis er in die Schweiz fliehen konnte und hier nach langer Odyssee als Flüchtling anerkannt wurde. Ibrahim Gezer «Îrbo» lebt jetzt in Laufen.