Der Sandmann
Benno (Fabian Krüger) ist kein netter Mensch, auch nicht zu seiner Freundin Patrizia (Florine Elena Deplazes). Und er regt sich fürchterlich auf über Sandra (Frölein Da Capo in «Giacobbo/Müller», die unter seiner Wohnung ein Café betreibt und davon träumt, als Musikerin entdeckt zu werden. Eines Tages findet er Sand in seinem Bett. Zuerst ignoriert er dies, bald aber muss er feststellen, dass er selbst es ist, der Sand verliert. Tag für Tag nimmt der Sandverlust zu. Wohl oder übel muss er sich an Sandra wenden, denn neuerdings träumt er jede Nacht von ihr. Doch was hat das wohl mit dem Sand zu tun? – Die kurze Inhaltangabe dient bloss als dramaturgisches Klettergerüst, auf dem der 1975 geborene Schweizer Regisseur Peter Luisi seinen Film aufbaut. Bekannt wurde er vor «Der Sandmann» als Regisseur von «Verflixt Verliebt» (2004) und «Love Made Easy» (2006) sowie als Co-Autor von Fredi M. Murers «Vitus» (2006).
Der Film «Der Sandmann» ist der Tradition der Kunstmärchen der «Schwarzen Romantik», auch «Schauermärchen» genannt, zuzuordnen, von E. T. A. Hoffmann wurde das Stück erstmals 1817 veröffentlicht. Es zählt zu seinen bedeutendsten Werken und bietet vielfältige Deutungsansätze, so dass ein Kommentar vermerkte, «dass die Zahl der Deutungen in den letzten Jahren ein derartiges Ausmass erreicht hat, dass die Interpretation des Sandmanns wie eine literaturwissenschaftliche Spezialdisziplin anmutet, an der Vertreter aller methodischen Richtungen teilhaben.» – Auch dieser literarische Verweis führt bloss in eine Sackgasse, welcher der Filmemacher mit seinen Realitätswechseln elegant entwischt. Der eigenwillige Film wurde mit dem Zürcher Filmpreis, neun Nominationen für den Schweizer Filmpreis, dem Förder- und Publikumspreis am Filmfestival Max Ophüls und zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet.
Etwas näher betrachtet: Notgedrungen arbeitet Benno als Philatelist, mag Ordnung in seinem Leben, liebt Beethoven und schöne Frauen. Seine Nachbarin Sandra, die auf eine grosse Karriere als Einfrauorchester hofft und nachts lautstark in ihrer Bar Songs probt, ist ihm, dem gescheiterten Dirigenten, ein Dorn im Auge. Da sie weder sein Typ ist, noch Bennos Musikgeschmack teilt, beleidigt und beschimpft er sie regelmässig. Doch diese lässt sich von seinen Anfeindungen nicht beeindrucken und übt weiter für den grossen Durchbruch. Eines Morgens aber findet Benno Sand in seinem Bett. Als er realisiert, dass er selber diesen Sand verliert und dieser in immer grösseren Mengen aus ihm rieselt, verwandelt sich sein wohlgeordnetes Leben in ein einziges Chaos. Er verliert nicht nur seinen Job, sondern auch sein Leben gerät in Gefahr, selbst ganz als Sand zu zerbröseln. Als er erkennt, dass ausgerechnet Sandra der Schlüssel zu seiner Rettung sein könnte, beginnt ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. – Auch diese näheren Anmerkungen kommen dem Kern der Geschichte nicht näher. Denn die Story ist nicht das Wesentliche. Was aber dann?
Ich meine: Das «Sandlassen» ist der Motor für ein reines, selbstzweckhaftes Spiel, wie wir es in der Kunst etwa von Jean Tinguely kennen: als absurdes Spiel. Ein Spiel, das in der Philosophie Johan Huizinga im «Homo ludens» beschrieben hat. Dass jedes Mal Sand fliesst, wenn er schummelt oder lügt, ist lediglich der moralische oder psychoanalytische Transmissionsriemen für das ewige Spiel. Es ist aber auch das spielerische Switchen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Realität und Irrealität, zwischen Wunsch und Angst, wie wir es von den Surrealisten, etwa von André Breton oder René Magritte kennen. «Der Sandmann» zeigt die Grenzen der Logik auf und spielt in diesem Bereich, indem er sie ad absurdum führt.
Einige Stimmen zum Film
«Eine herrlich schräge Komödie.» Der Bund
«Wer sich auf die irreale Märchenhaftigkeit des Films einlässt, hat das grösste Vergnügen.» Tages-Anzeiger
«Ein Schweizer Film, der kein Luftschloss, sondern eine solide Sandburg voller witziger Fröhlichkeit ist…Ein erfreuliches Bijou» www.outnow.ch
«Die Leichtigkeit des Seins, sie feiert in dieser Komödie einen kleinen Triumph.» Zürcher Landzeitung.
«Gelungene Komödie. „Der Sandmann“ unterhält nicht nur, sie berührt auch.» www.aargauerzeitung.ch
«Ein bestechend ungewöhnlicher Film» www.cinemabuch.ch
«Eine skurril-absurde Komödie» www.nzz-online
«Wunderbar durchgeknallt und unwiderstehlich.» www.kino-zeit.de
«Der Sandmann ist eine jener unvermuteten Überraschungen, die man immer mal wieder im Kino machen kann.» www.kino-zeit.de
«Der pfiffigen Idee und etlicher lustiger Szenen zum Trotz hat der Film durchaus Tiefgang. Selten schafft es ein Film, unterhaltsame Komik so gekonnt mit ernsten Themen zu verknüpfen. Absolut sehenswert!...«Sehr unterhaltsam und originell.» www.sr-online.de» www.sr-online.de
«Der charmanteste Film des Jahrgangs.» Stuttgarter-Zeitung
«Angenehm leicht und verspielt.» www.zeit.de
Und meine persönliche Meinung: «Der Sandmann» ist eine schräge, skurrile, verspielte Komödie, die einem den Boden der Alltagsvernunft unter den Füssen wegzieht. Sie ist gut geschrieben, inszeniert und gespielt, Kamera, Schnitt und Musik sind professionell und leicht, wie es im Schweizer Film nur selten vorkommt. Er ist somit ein modernes Märchen, indem uns der geheimnisvoll rieselnde Sand – wie die Papierfetzchen bei einer Schnitzeljagd – in die Traumwelt hinein- und immer wieder von dort hinausführt.
Aus einem Interview mit Peter Luisi
Wie kommt man auf so eine Idee: ein Mann, der Sand verliert?
Es ist schon eine Weile her. An der Filmschule hatten wir die Aufgabe, einen Film ohne Dialog zu drehen. Eine sehr gute Übung, da es oft am einfachsten ist, eine Geschichte mit Hilfe des Dialogs zu erzählen. Aber ein Film ist doch ein Geschehen in Bildern. Auf der Suche nach einer visuellen Geschichte bin ich auf die Idee mit dem Sand gekommen. Vielfach wird in Filmen über das Problem nur geredet. In meinem Film hingegen sieht man es. Der Protagonist versinkt buchstäblich und vor unseren Augen darin. Aber natürlich geht es in der Geschichte nicht nur um Sand.
Du sollst einmal gesagt haben, du hättest Angst davor, einen langweiligen Film zu drehen.
Meinen ersten Spielfilm habe ich mit neunzehn gedreht. Als ich ihn nach unendlichen Strapazen fertig gestellt hatte und ihn sieben Freunden zeigte, sind zwei davon eingeschlafen. Diese Angst sitzt mir vielleicht immer noch in den Knochen. Grundsätzlich finde ich, ein Film sollte zwei Dinge bewirken: Er soll das Publikum unterhalten und er soll es nicht dümmer aus dem Kino hinausschicken als es in den Saal reingekommen ist. Er soll unterhalten und dem Zuschauer etwas mitgeben.
Der Therapeut sagt Benno, dass er Sand verliere, sei eine schöne Metapher. Wofür steht diese Metapher?
Das will ich nicht beantworten. Ich bin immer enttäuscht, wenn ich einen Film sehe und denke, ich hätte ihn verstanden, und dann lese ich die Interpretation des Regisseurs, die etwas ganz anderes aussagt. Das will ich niemandem antun. Natürlich ist es für mich als Autor wichtig zu wissen, warum etwas passiert, sowohl während des Schreibprozesses als auch später für die Inszenierung. Ich bin der Überzeugung, dass ein Zuschauer, auch wenn er nicht alles genau versteht, trotzdem spürt, ob eine Geschichte aufgeht oder nicht. Es ist wie bei einem Bild. Man weiss, ob es einem gefällt oder nicht, auch wenn man nicht immer sagen kann, warum.
Wie erzeugt man Komik?
Das Empfinden für Komik ist – wie jedes andere Empfinden auch – subjektiv. Eine Person kann etwas sehr lustig finden und eine andere gar nicht. Somit kann ich nur versuchen, einen Film zu machen, der mir gefällt, und hoffen, dass ich nicht der Einzige bin. Als Regisseur muss man 10’000 Entscheidungen treffen und darf dabei nicht blindlings handeln. Der einzige Geschmack, über den man genügend Autorität hat, ist der eigene. Es ist etwas paradox. Man macht einen Film für die anderen, aber muss dafür seinem eigenen Geschmack folgen.
(Mitternachtstalk auf SR-online.de, Moderatorin Shirin Sojitrawalla, 20.1.2011)