Die Blindgänger
«Schriftsteller können etwas gegen die Klischees von Getrennt- und Verschiedensein tun; denn Schriftsteller sind nicht nur Mythenvermittler, sondern auch Mythenbildner. Literatur bietet nicht nur Mythen, sondern auch Gegenmythen, so wie das Leben Gegenerfahrungen bietet; Erfahrung, die uns in dem, was wir zu glauben, zu fühlen und zu denken meinen, stören», schreibt die kürzlich verstorbene amerikanische Essayistin Susan Sontag. Und was sie über Literatur sagt, gilt auch für Filme, so den neuen Jugendfilm von Bernd Sahling.
Sie machen Musik und haben Talent. Marie und Inga sind beide dreizehn. Beste Freundinnen, die ihre Geheimnisse und alle Probleme teilen, die sie mit den Lehrern, dem Aussehen, den Jungs und der ersten Liebe haben. Genau wie alle Mädchen ihres Alters – mit dem grossen Unterschied: Sie sind blind und leben in einem Internat für Sehbehinderte. Gern würden sie in einer Band spielen, doch schon bei der ersten Bewerbung gibt es eine Abfuhr: «Sehr begabt, aber nicht medientauglich».
«Dann eben nicht», denkt Marie, «und bleibt alles beim Alten.» Bis sie Herbert, einem jungen Russlanddeutschen, begegnen. Der schleppt ein komisches Instrument mit sich herum und will zurück in seine Heimat Kasachstan. Doch dafür braucht er Geld. Marie beschliesst, ihm zu helfen. Heimlich versteckt sie den Jungen im Internat, was Inga auf eine Idee bringt: Wir gründen eine eigene Band und spielen in der Stadt. Nun müssen sie raus aus dem Internat und rein ins Leben. Doch dabei kann man stolpern, gibt es viele Hürden zu überspringen – und das als junge Menschen, das als Menschen mit einer Behinderung, als Menschen, die «anders» sind als die andern.
Geschichte von zwei blinden Mädchen und einem sehenden Jungen
Berührende Authentizität jenseits von Betroffenheitslyrik und Realismusklischees, gepaart mit lakonischem Humor und unprätentiöser Weltsicht bietet dieser wunderbare Spielfilm. Er zeigt uns von ganz nah, wie Menschen leben, die «anders» sind. Dieses Andere, Andersartigkeit, für viele manchmal Fremde kennen zu lernen, damit umzugehen versuchen, dürfte ein wichtiges Erziehungsziel der Schule und des Elternhauses sein, gerade auch heute in unserer multikulturellen Gesellschaft.
In der Didaktik heisst dieses Phänomen Umgang mit Heterogenität und gilt als ein Kernwort in den Fragen der Begabtenförderung und der Integration. Doch wie soll das im Bereich der Erziehung geschehen? Ich meine, am besten so, wie ich es vor kurzem vom grossen alten deutsche Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Horst-Eberhard Richter gehört habe: Auf den andern Menschen zugehen und versuchen, in ihm drin etwas vom eigenen Ich zu entdecken. – Vielleicht tönt das etwas abstrakt; doch scheint es mir wichtig, dass wir uns bei solch existentiellen Fragen zuerst eine brauchbare Theorie erarbeiten, bevor wir mit der Praxis beginnen: in der Familie, in der Schule, in der ganzen Gesellschaft.