Die Frau, die sich traut
Gerade im Alter, wenn man vermehrt Zeit zur Besinnung hat, stellt sich schon mal die Frage, ob man eigentlich sein Leben gelebt und seine Träume verwirklicht hat. Oder ob man, immer mit den besten Absichten, nur für die andern, vor allem die Kinder, da war und seine eigenen Bedürfnisse verdrängt und schliesslich vergessen hat. Eine Problematik, die vor allem bei älteren Frauen verbreitet ist. Allgemeiner heisst die Frage, die weiterführt: Was mache ich jetzt, wenn ich sehe, dass ich im Leben etwas falsch gemacht habe? In dieser doppelten Falle steckt die fünfzigjährige Beate, grossartig verkörpert von Steffi Kühnert, die einem breiteren Publikum aus dem Film «Das weisse Band» bekannt sein dürfte. Die Schauspielerin, die eine grosse Natürlichkeit und Authentizität ausstrahlt, lässt offensichtliche Schwächen des Drehbuches (von Marc Rensing und Annette Friedmann) vergessen und macht die Geschichte glaubwürdig und berührend.
Die Hauptdarstellerin, Steffi Kühnert, macht den Film zu dem, was er ist.
Wie es zu diesem Film kam
Auf die Frage, wie er zu diesem Stoff gekommen sei, antwortete der Filmemacher: «Als ich über mögliche Geschichten und dabei auch über das Älterwerden nachdachte, kam mir meine Mutter in den Sinn: eine klassische Hausfrau mit drei Kindern, die ihren Job als Schneiderin aufgegeben, geheiratet und sich immer nur um die Kinder gekümmert hatte – 30 Jahre lang. Kurz nach ihrem 50. Geburtstag, als wir Kinder schon aus dem Haus waren, stellte sie ihre Ernährung komplett um, sie begann, Sport zu treiben, bewarb sich an der Volkshochschule und gab dann Nähkurse. Meine Mutter machte auf einmal komplett ihr eigenes Ding. Wir Kinder haben das damals erstaunt, mit einer Mischung aus Befremden und Bewunderung, registriert. Diese Veränderung inspirierte mich dann später zu dieser Geschichte, in der sich eine Frau ihre Individualität zurückerkämpft.» Und auf die Frage nach der zentralen Aussage dieses Films antwortete er: «Was passiert, wenn man bemerkt, dass man alles, was man früher mal wollte und wofür man mal angetreten ist, nicht gemacht hat? Und wie bekommt jemand, der bislang vor allem für andere gelebt hat, sein Ich-Gefühl und damit sein Herz zurück?
Von Aufopferung und Selbstverwirklichung
Der Job in einer Grosswäscherei, die Enkelin, der erwachsene Sohn, der mit seiner schwangeren Freundin bei ihr lebt: Voller Hingabe kümmert sich Beate um alles und um alle. Auch für ihre beste Freundin Henni hat die ehemalige DDR-Leistungsschwimmerin stets ein offenes Ohr, wenn diese nach ihren Liebesabenteuern eine geduldige Zuhörerin braucht. Dann wird, wie fast immer unvorbereitet, bei Beate ein Tumor diagnostiziert. Ob er gut- oder bösartig ist, will sie gar nicht wissen. Doch nach diesem Augenblick hat sie keine Lust mehr, ihre Wünsche und Bedürfnisse zurückzustellen. Sie beschliesst, sich einen langgehegten Traum zu erfüllen: einmal von England nach Frankreich durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Ihre erwachsenen Kinder, die plötzlich allein mit dem Alltag klarkommen müssen, sind darüber alles andere als begeistert. Doch Beate beginnt zu trainieren. Mit ihrer Freundin Henni an der Seite macht sie jetzt endlich etwas nur für sich – und begibt sich auf den Weg zu sich selbst.
Ohne ihre Freundin Henni wäre das Unterfangen nie gelungen.
Der Ärmelkanal als Ort der Auseinandersetzung
Die Meerenge zwischen England und Frankreich misst an ihrer schmalsten Stelle 33 Kilometer. Wegen des starken Verkehrs und schwieriger Wetterbedingungen ist es verboten, den Ärmelkanal von Frankreich nach Grossbritannien zu durchqueren. Zwei britische Vereine haben die Erlaubnis, in der entgegengesetzten Richtung Durchquerungen zu organisieren. Wer durch den Kanal schwimmen will, braucht eine Starterlaubnis und muss den Nachweis erbringen, einmal sechs Stunden lang ohne Pause in maximal 16 Grad warmem Wasser geschwommen zu sein. Die Strömung kann mehr als sechs Knoten betragen, weshalb die Schwimmer in Wirklichkeit 44 Kilometer und mehr zurücklegen. Begleitet werden sie von einem Boot, das sie jedoch nicht anfassen dürfen, ansonsten sie disqualifiziert werden. Die meisten Schwimmer futtern sich vor dem Versuch viel Körperfett an. Dies isoliert, gibt Auftrieb und liefert Energie. Etwa 300 Schwimmer haben in der letzten Sommersaison versucht, den Kanal zu überqueren. Im Schnitt schafft es jeder Fünfte. Bis Ende 2012 hatten 1341 den Kanal bezwungen, acht Menschen starben dabei.
Physische und psychische Kraft ist in höchstem Masse gefordert.
Die Freundin hinter der starken Frau
Einen Kampf gibt es nicht bloss zwischen Beate und dem Meer, sondern auch mit den Menschen ihrer Umgebung. Dabei spielt ihre Freundin Henni eine entscheidende Rolle. Das Unternehmen wird zum Prüfstein ihrer Freundschaft. Henni steht noch zu ihr, wenn ihre Familie Unverständnis zeigt, und selbst dann noch, wenn auch sie Beates egoistische Sturheit oder existenzielle Konsequenz nicht mehr verstehen kann.
Die Emanzipationsgeschichte hat einen dramatischen Auslöser, den Krebs. Doch ohne den drohenden Tod hätte Beate wohl nie innegehalten, zurückgeblickt – und die Schwimmerin in sich und sich selbst wiederentdeckt. Sie will lieber, das spürt sie tief im Innern, noch einmal etwas Ausserordentliches leisten. Sie steigt in Badewannen voller Eiswürfel, joggt durch den Wald und schwimmt ins eiskalte Meer hinaus. Der Filmemacher Rensing beweist hier einen genauen Blick dafür, was ein Körper für die Seele leisten kann. Ausdauer wird zur Metapher für das Leben selbst, bei dem man, wie bei der Kanaldurchquerung, durchhalten muss.
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