Die Geschichte vom weinenden Kamel

Als Lehrerin, als Lehrer der Unterstufe oder als Eltern von Kindern dieses Alters suchen wir immer wieder gute Märchen. Diese sollen nicht wie in der Regel von den materiellen Fakten handeln, sondern auch von immateriellen, die Sinn schaffen.

Das Kino bietet in diesem Genre wenig Brauchbares; eine Ausnahme macht der Film «Die Geschichte vom weinenden Kamel» der Mongolin Byam-basuren Davaa und des Italieners Luigi Falorni, der jetzt im Kino anläuft.

Die beiden haben sich an der Filmhochschule München kennen gelernt und für die-ses Dokumentarfilmprojekt zusammen getan. Entstanden ist ein Werk mit respektab-ler formaler Sicherheit und beeindruckender menschlicher Reife: das Porträt einer neunköpfigen mongolische Familie, bestehend aus vier Generationen, wohnhaft in drei Jurten und im Besitz von zahlreichen Schafen, Ziegen und Kamelen, darunter zwanzig trächtigen Stuten.

Der Film zeigt, wie die Menschen ihr alltägliches Leben fristen, Feuerholz sammeln, Tee kochen, die Tiere füttern und wie sie miteinander umgehen, als «poetisches», das heisst schöpferisches Werk. Er erzählt nicht bloss eine Geschichte, was jeder Spiel-film tut, beschreibt nicht bloss ein fremdes Volk, was jeder Dokumentarfilm macht. Er lässt etwas spüren vom Atem der Natur, vom Puls des Lebens, vom Klima des Zu-sammenseins, in einer Dichte und Authentizität, wie es nur wenigen Filmemachern gelingt.

Menschen und Tiere...

Im weiten Süden der Mongolei, in der unwirklichen Landschaft der Wüste Gobi, kommt ein kleines weisses Kamel zur Welt. Die Mutter, geschwächt und verstört von der schmerzvollen Geburt, verstösst es. Ohne ihre Milch aber ist das Kalb, das sich der Mutter immer wieder verzweifelt nähert, dem Tod geweiht. In ihrer Not erinnern sich die Nomaden an ein uraltes Ritual: Ein Musiker aus der fernen Stadt soll mit den magisch-himmlischen Klängen seiner Geige, begleitet vom Gesang der Familie, das Muttertier zum Weinen bringen und so ihr Herz erweichen. Das Wunder geschieht: Die Kamelmutter kommt in eine Art Trancezustand, bricht in Tränen aus, ihr Junges darf säugen und ist gerettet.

... brauchen Muttermilch

Alle – Menschen wie du und ich, Tiere wie das Kamel, das «himmlische Tier», wie es die Regisseurin nennt – benötigen Wärme, Wasser und Nahrung, brauchen Zunei-gung und Liebe, verlangen Muttermilch, sagt mir der Film. Vielleicht liegt das Ge-heimnis der Verzauberung durch diesen Tierfilm darin, dass wir bei dieser Mutter und ihrem Kind spüren, wie wir alle – ob Mensch oder Tier, Mann oder Frau – tief innen zusammen gehören, dass wir einzeln immer nur «halbe» Wesen sind und erst «ganz» werden im Du. Ähnliches meinten doch auch schon antike Schöpfungsmythen. Da die Stute ihr Fohlen nicht säugen lässt, mischt sich der Mensch helfend ein, bis das Wunder geschieht. Dass dies mit Hilfe der Musik und des Gesangs geschieht, illust-riert etwa die griechische Mythologie mit Eurpheus und seinen Klängen, belegen wis-senschaftlich die Arbeiten des berühmten Hals-Nasen-Ohrenarztes Alfred A. Toma-tis. Den älteren Mongolen ist dieses Ritual allen noch wohlbekannt.

Empfehlung

Eigentlich möchte ich diese Geschichte allen Kindern der Welt widmen: als Ge-schenk, als Wohltat, zum Atemholen, als Heilung, als Erbauung, zum Stille-Werden. Am besten nützen diese Gelegenheit, den Kindern ein Geschenk zu machen, sicher-lich die Eltern. Doch auch Lehrerinnen und Lehrer (der 2. bis 5. Klasse) können diese anspruchsvolle, doch – wenn sie gelingt – tief befriedigende Aufgabe übernehmen, mit diesem Film ihren Schülerinnen und Schülern helfen, ein Stück Neuland des Le-bens zu beschreiten.

Ein Tipp: Bevor man mit einer Klasse ins Kino geht – Videos und DVD gibt es noch keine –, sollte man sich den Film unbedingt selbst, am besten im Team, anschauen, dann wird man sicherlich richtig vor-gehen und werden die Kinder und wir einen Gewinn von diesem Filmerlebnis haben. – Der Verleiher kann Sie informieren, wann der Film in Ihrer Nähe läuft: 044 448 44 22, filmcoopi@filmcoopi.ch.