Downtown Switzerland

Ein Reality Check

Zürich: Herbst 2003 – Frühling 2004. Während dieser Zeit haben vier Schweizer Filmemacher am Beispiel Zürich der Schweiz den Puls gefühlt, einen Befindlichkeits-Check gemacht. Entstanden ist ein filmisches Gemeinschaftswerk, das Einblicke gewährt, Einsichten vermittelt, Anregungen zum Weiterdenken macht.

Vieldeutig

Gelegentlich werden Filme kritisiert, weil man sie so oder so sehen und interpretieren kann, weil sie keine eindeutige Aussage haben. Ich meine, Mehrdeutigkeit ist die wesentliche Eigenschaft jedes Kunstwerks: für die Machenden wie für die Betrachtenden. Nach meinem Verständnis von Medienkommunikation schafft der Filmemacher oder die Filmemacherin nur die Hälfte des Films, die andere generieren wir. Eine Überzeugung, die übereinstimmt mit der konstruktivistischen These, dass es die Wirklichkeit nicht eo ipso gibt, sondern dass wir sie konstruieren.

Wir können dies auch begründen mit der Methodik des vor kurzem verstorbenen Jacques Derrida: seinem postmodernen In-Frage-Stellen jeder verbindlichen Theorie, seiner Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik und Philosophie. Genau in die gleiche Richtung zielt, nach meiner Wahrnehmung, der Film «Downtown Switzerland» von Christian Davi, Stefan Haupt, Kaspar Kasics und Fredi M. Murer.

Der Film ist eine facettenreiche, kaleidoskopische Standortbestimmung der Schweiz, hält uns den Spiegel hin, funktioniert wie ein Seismograf.

Eine «Gebrauchsanleitung» der Filmautoren

«Seit dem Januar 2003 trafen wir uns einmal im Monat. Eine schleichende Klimaveränderung trieb uns, die nicht nur das Wetter betraf. Die härtere Gangart in der Politik. Die wachsende Verunsicherung. Die Rentendiskussion. Das Sanierungsprogramm des Zürcher Regierungsrates, das die Bevölkerung mobilisierte, so dass selbst Lehrer-/innen und Schüler-/innen streikten. Inzwischen hatte der Irakkrieg begonnen, überall gingen Menschen auf die Strasse, besonders junge, aber auch ältere.

In dieser Situation beschlossen wir, nicht lange zu reden, sondern unsere Diskussion filmisch fortzusetzen. «Rock»n»roll» sagten wir uns. Die nötigsten Absprachen, Kamera in die Hand und raus in die Stadt. Es war jetzt Herbsts 2003. Wahlkampf.

Wir wollten gemeinsam eine eigenwillige, subjektive Chronik unseres Lebensraums, unserer Stadt aufzeichnen. Der Befindlichkeit der Menschen in ihrem Alltag nachspüren, den politischen Veränderungen auf den Zahl fühlen. Ein «reality chek» sozusagen, eine fragmentarische Reflexion über unsere Stadt, vom Altstadtzentrum bis an die Ränder der Kultur- und Wirtschaftmetropole; über unser Land als Umschlagplatz von «Geld und Geist», von «Hard- und Software», Sitz internationaler Konzerne, Tummelfeld konservativer Kleingewerbler und junger Trendsetter; ein Film über den Stand der Dinge.

Der Film ist ein Experiment. Vier Filmemacher, vier Kameraobjektive, vier Sichtweisen. Und doch wollten wir keinen vierteiligen Episodenfilm machen, sondern einen Film, in dem sich unsere individuellen Szenen und Sequenzen durchdringen und miteinander in Beziehung treten. Ein Film mit unterschiedlichen Handschriften und Blickrichtungen, für den wir gemeinsam zeichnen.»

Jetzt liegt der Ball bei uns...

Die vier Filmemacher habe ihre Bilder und Töne, Geräusche und Musik eingefangen und zu einem Film montiert und in eine Form gebracht, die uns äusserst unterhaltsam einlädt, weiter zu denken, uns hineinzufühlen und wo möglich uns im Film wiederzuerkennen: in dieser oder jener Szene, im Gegenteil davon oder in einer der unzähligen möglichen Varianten dazwischen. Unbeteiligt lässt er kaum jemand, obwohl er nicht manipuliert, sondern viel Freiraum für die persönliche Interpretation lässt. Er lädt ein, verschiedene Standpunkte kennen zu lernen und unsern eigenen Standort zu klären.

... als Sozialarbeiter, Sozialpädagogin, Sozialbegleiter

Ich hoffe, dass es – auch angesichts der rasanten Entwicklung in Richtung Akademisierung der Sozialen Arbeit – in diesen Berufen immer noch Menschen gibt, die neben der Wissenschaft auch andere Zugänge zur Deutung und Veränderung der Wirklichkeit akzeptieren: etwa die freie Assoziation, Träumen, Phantasieren, zu dem uns Bilder, zu dem uns die Kunst, z.B. auch «Downtown Switzerland», einladen können.

Und zum Schluss noch dies: Fredi M. Murer, der älteste der vier, meint zum Filmemachen – was übertragen werden kann auf die Soziale Arbeit: «Mir hätte nichts Besseres passieren können, als einer von diesen Vieren zu sein, verbunden mit der Erfahrung, dass beim Verfertigen des Gemeinschaftswerkes die kreativste Phase genau dann einsetzte, als jeder einzelne seine persönlichen Ambitionen zurückstellte und zum Anwalt der anderen drei wurde.» Chapeaux und zur Nachahmung empfohlen!