Drii Winter

Was Liebe kann: Mit dem Spielfilm «Drii Winter» hat der Schweizer Michael Koch ein Meisterwerk geschaffen. Mit einem grossartigen Darstellerpaar, einer genialen Regie und Aussagen, die auch unser Leben, also Liebe, Partnerschaft, Krankheit, Sterben, mit Deutungen bereichern können. Ab 1. September im Kino
Drii Winter

Anna und Marco

In einem entlegenen Bergdorf, hoch oben in den Schweizer Alpen, wird die Liebe zwischen Anna und Marco auf eine harte Probe gestellt. Anna ist im Dorf aufgewachsen und hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung, Marco ist als Aussenseiter ins Tal gekommen, um den Bauern bei der harten Arbeit an den steilen Hängen zu helfen. Zusammen erfahren die beiden das Glück einer jungen Liebe und einer kleinen Familie. Doch als Marco plötzlich die Kontrolle über seine Impulse verliert und sein Verhalten immer unberechenbarer wird, brechen auch alte Spannungen in der Dorfgemeinschaft wieder auf. Im Wechsel der Jahreszeiten und gegen alle Widerstände kämpft Anna um Marco und bewahrt sich dabei eine Liebe, die selbst den Tod überstrahlt. – Als Einführung nachfolgend Ausschnitte eines Interviews, integral im Anhang.

drii winter.02
Leben und Arbeit auf der Alp

Aus einem Interview mit dem Regisseur Michael Koch

Die schroffe, wilde Berglandschaft von «Drii Winter» hat nichts mit dem polierten, idyllischen Bild zu tun, das viele Menschen von der Schweiz haben. Ich wollte meine Geschichte in einer Bergwelt ansiedeln, die interessanter ist als das Postkartenbild, das viele im Kopf haben, wenn sie an die Schweiz denken. Das Leben in den Bergen ist selten nur schön, oft rau und brutal. Das Tal, in dem wir gedreht haben, ist eng, die Hänge sind steil, die Arbeit hart. Im Winter liegt die Dorfkirche einen Monat lang im Schatten, weil es die Sonne nicht schafft, über die Bergkante zu steigen. Ein solcher Ort strahlt für mich eine ganz andere Energie aus als ein schmuckes Bergdorf in einer für Touristen herausgeputzten Bergidylle. Auch habe ich nach einem Ort gesucht, wo die Menschen primär von der Berglandwirtschaft leben, nicht vom Tourismus. Ich glaube, dadurch ist ihr Verhältnis zur Natur und ihrem Land, das sie in täglicher Arbeit bestellen, intensiver. Im Kern kreist der Film um die Frage, wie unser Verhältnis zur Natur unseren Umgang mit dem Kranksein und dem Tod beeinflusst. Und hierfür schien mir ein Ort, an dem die Naturgewalt unmittelbar zu spüren ist, sehr interessant.

Trotz der tragischen Elemente macht der Film deutlich, dass Anna kein passives Opfer der Umstände oder der Männer ist. Was fanden Sie neben der Kraft der «wahren Liebe» und der enorm schwierigen Entscheidung, die Anna treffen muss, interessant? Mich fasziniert es, wenn ich von Menschen höre, denen es gelingt, den Partner nicht für dessen Krankheit verantwortlich zu machen, auch wenn die Folgen oft schwer zu ertragen sind. Auf der anderen Seite trägt Anna auch Verantwortung ihrem sozialen, familiären Umfeld gegenüber. Das ist ein schmaler Grat, und ich finde, die Frage der Abwägung, wie man sich in einer solchen Situation verhält und welche Entscheidungen man trifft, ist nie leicht zu beantworten. Ich glaube auch, dass es so etwas wie «die wahre Liebe» nicht gibt. Ich denke, Liebe kann ihre Form immer wieder verändern. Das Schöne an der Geschichte ist, dass Anna trotz der widrigen Umstände, gegen die sie antritt und kämpft, nie ihre Haltung verliert. Sie lässt sich weder von der Dorfgemeinschaft noch durch religiöse Versprechen davon abbringen, ihrem eigenen Kompass zu folgen. Das macht sie für mich auf eine besondere Weise stark und eigenständig. Es gelingt ihr, die Krankheit ihres Mannes als etwas zu akzeptieren, dem sie zwar ausgeliefert ist, an dem sie aber nicht verzweifelt. Darin zeigt sich für mich eine menschliche Grösse, die mich berührt und beglückt.

drii winter.03
Der Chor bringt Neues

Wenn die Form zum Inhalt wird, ...

Das Erste, was beim Betrachten von «Drii Winter» wohl auffällt, sind die aussergewöhnlich langen Einstellungen. Nicht zufällig, beabsichtigt. Dieses Andere des Films verlangt auch eine andere Rezeption. Das kommerzielle Kino erzählt mit hohem Tempo und kurzen Einstellungen, dass das und das geschieht; und wir nehmen das und das, ohne es in unser Bewusstsein einbauen zu können. Das aber verlangt und ermöglicht dieser Film durch die überlangen Plansequenzen. Er verlangt unser Mittun, sonst funktioniert er nicht – gemäss der Regel, dass jeder Film zur einen Hälfte von den Produzierenden, zur andern von den Zuschauenden gemacht wird.

Haben wir die Länge ausgehalten, die Bilder und Töne mit ihren Aussagen wahrgenommen, werden wir wohl von einem Gefühl der Anteilnahme am grossartigen Spiel von Anna (Michèle Brand) und Marco (Simon Wisler) erfüllt, beides Laien, sie Architektin, er Bauer. Doch hinter ihrem Spiel steht der Regisseur: Er hat Anna, die sich auf eine Ausschreibung in einem Lokalblatt für die Rolle gemeldet hatte, lange Zeit intensiv Szenen spielen lassen, und für die männliche Rolle mehr als zweihundert Männer gecastet, bis Marco ausgewählt war – gemäss der Regel, dass auch der Regisseur im Schauspieler und auch die Schauspielerin in der Regisseurin präsentiert sind.

Unerwartet in den Schweizer Bergen sind die Zwischenszenen mit einem Chor, dessen Gesang dreimal in Bild und Ton und zweimal nur hörbar die Ellipsen der Handlung verbindet, trennt, vorantreibt und dem Film etwas Fremdes, Welthaftes gibt, vergleichbar dem griechischen Theater. «Drii Winter» handelt nur vordergründig von Kühen, die versorgt, und Arbeiten, die verrichtet werden, sondern von der Einbindung in Zeit und Raum – und schliesslich in unser aller Leben.

Dahinter stehen Armin Dierolf an der Kamera, Florian Riegel mit dem Schnitt, Sara Giancane für die Ausstattung. Diese Frauen und Männer, wie auch die kleine Julia, haben keine Nebenrollen, sondern sind Teil eines Teams, das notwendig ist und für das Michael Koch Verantwortung trägt. Dass die Musik Bach, Brahms, Buxtehude angelehnt ist und ebenso den Eurodance-Hit «What is Love» verwendet, dürfte den Musikern Tobias Koch und Jannik Giger zu verdanken sein.

Tauche ich in den Film ein – mit dem Hinweis, dass das Publikum die Hälfte des Filmes macht – dann komme ich zu dem, was ich als Grösse dieses Films empfinde: Ich kenne aktuell keinen Film, in dem das Gesagte vollkommen mit dem Verschwiegenen, das Ungesagte mit dem Ausgesprochenen dialogisiert: in Worten und Bildern, Landschaften, Gegenständen und Tönen.

drii winter.04
Nah auch im Leid

... umfasst der Himmel das Leben

Der für die internationale Auswertung verwendete Filmtitel «Piece of Sky» bringt der tragischen Liebesgeschichte eine positive Dimension. Er umfasst Erde und Himmel, wovon im Film auch gesprochen wird: von Marco und Anna sowie dem Pfarrer mit den üblichen Tröstungen, und von Julia, deren Himmel aus der Sonne, den Bergen, Tieren, Bäumen und dem Schnee besteht. Stellt nicht der ganze Film uns diesen andern Himmel vor – zum Mitleben während zweieinviertel Stunden und wohl noch lange Zeit darüber hinaus?


drii winter.05

Anna mit Marcos Asche

Zum Lesen und Weiterdenken

Kürzlich habe ich von einer Freundin einen Text erhalten, der mich tief berührt: «Mut zur Endlichkeit» von Fulbert Steffensky. Dieser deutet wie «Drii Winter» vieles im Leben, also Liebe, Partnerschaft, Arbeit, Krankheit und Sterben, auf originelle Weise. Vielleicht hilft der 16-seitige Essay des heute 86-jährigen Autors, vom Film aus weiter zu denken.

Ein Freund verwies mich eben erst auf den Roman «Die Entdeckung der Langsamkeit» von Sten Nadolny. Wie ich lese, soll es dem Autor gelungen sein, die Langsamkeit von ihrem muffigen Image befreit zu haben: in seinem Buch, das Historiengemälde, Seefahrerroman und Liebesgeschichte ist und für die Welt eine menschliche Geschwindigkeit entdeckt.

Und schliesslich erinnere ich mich an einen eigenen Beitrag, in dem ich auf den französischen Philosophen Paul Virilio (1932 bis 2018), hingewiesen habe, der immer wieder die Entschleunigung der Gesellschaft und der Kommunikation postulierte – und damit ebenfalls Form und Inhalt von «Drii Winter» weiterführt.

Ein Gedicht nennt Fredi M. Murer den Film. Lesen wir ihn, der ins Rennen um eine Oscar-Nomination geht, also auch wie ein Gedicht!

Interview mit dem Regisseur Michael Koch

Regie: Michael Koch, Produktion: 2021, Länge: 137 min, Verleih: Frenetic