Ein Lied für Argyris

Eine faszinierende Lebens-Geschichte…

Oft fehlt in der Schule die Zeit, den Zweiten Weltkrieg zu behandeln und oft haben Lehrkräfte selbst Lücken in ihrem Geschichtsbild. Der Film «Ein Lied für Argyris» von Stephan Haupt kann da helfen. Sein Einsatz für Jugendliche ab frühestens 14 Jahren verlangt zwar eine intensive Vorbereitung, bietet dann aber Geschichtsunterricht der Meisterklasse und ermöglicht Highlights in Lebenskunde und in Lebensschule.

Eine faszinierende Lebens-Geschichte…

Vor zehn Jahren ist der Schweizer Dokumentar- und Spielfilmregisseur Stephan Haupt dem Griechen Argyris Sfountouris erstmals begegnet und war beeindruckt, seines wachen Geistes, seiner Sensibilität und Universalität wegen. Zeit seines Lebens hat sich Argyris mit dem im Krieg erlebten Wahnsinn beschäftigt. Was er erzählte, muss ein Film werden, dachte sich Haupt, liess das Vorhaben aber liegen, bis er 2003 zwischen Santorini und Heraklion mit seiner Familie nur knapp dem Tod entronnen war. Danach rief er Argyris an: Jetzt muss ich den Film machen!

… wird zur Lektion in Welt-Geschichte.

Am 10. Juni 1944, in Distomo, einem kleinen Bauerndorf zwischen Athen und Delphi, überlebte der noch nicht einmal vierjährige Argyris ein brutales Massaker der deutschen Besatzungsmacht. In weniger als zwei Stunden wurden 218 Dorfbewohner umgebracht. Dabei verlor er seine Eltern und dreissig weitere Familienangehörige. Die Grausamkeiten, die geschehen sind und im Film erzählt werden, sind kaum zu ertragen. Doch «der Film ist eine Verneigung vor den Menschen, die solche Erlebnisse in frühester Kindheit gemacht haben, und dennoch überleben, dennoch leben wollen, und sich nicht abschotten und zurückziehen. Diese Suche, diese Sehnsucht liegt dem Film zu Grunde», meint der Autor.

Der Grieche erzählte dem Schweizer seine Lebensgeschichte, eingebettet in die Geschichte Griechenlands und berichtet auch von seinem weiteren Leben im Ausland: in Waisenhäusern, im Kinderdorf Pestalozzi, Studium in Mathematik und Astrophysik, Lehrtätigkeit, Arbeit als Astronom und Übersetzer, als Entwicklungs- und Katastrophenhelfer und heute mit 66 Jahren engagiert für die Hinterbliebenen des Massakers und in der Friedensbewegung.

Trauerarbeit und Sinnsuche

Die Geschichten erschüttern und faszinieren zugleich. Es lohnt sich, sie exemplarisch zu verstehen: als Episoden der Weltgeschichte. Die bieten nicht bloss Aufzählungen geschichtlicher Fakten. Stephan Haupt – und Argyris Sfountouris – beziehen stets Stellung, denken nach, setzten sich intellektuelle und emotional damit auseinander und stossen dabei vor zu den Sinnfragen des Mensch-Seins.

Warum konnte das geschehen? Wie kann man danach weiter leben? Was bedeutet das für das Leben? Auf welche Weise können wir künftig solches verhindern oder zumindest etwas dagegen unternehmen? So und ähnlich fragt uns der Film, fragen wir uns. – Für mich ist «Ein Lied für Argyris» der wichtigste Schweizer Dokumentarfilm der letzten Jahre. Sehen sollten ihn eigentlich alle, die mit der Erziehung junger Menschen zu tun haben. Ob und wie er in der Schule eingesetzt werden kann? Darüber muss man sich unterhalten. Der Film lehrt den Umgang mit konkretem Wissen und persönlicher Trauer, aber auch geschichtlichen Fakten und historischer Schuld. «Wir kommen aus einem dunklen Abgrund; wir enden in einen dunklen Abgrund, den hellen Raum zwischen den beiden heissen wir Leben.» Aus «Askese» von Nikos Kazantzakis, einem Buch, das Sfountouris übersetzt hat.