El botón de nácar

Eine andere Weltgeschichte: «El botón de nácar» von Patricio Guzmán ist ein Film-Essay über den Kolonialismus, eine Chile- und Weltgeschichte und gleichzeitig ein Film-Gedicht.
El botón de nácar

Chiles Ureinwohner waren Wassernomaden

Der heute 74-jährige Chilene Patricio Guzmán ist ein Erzähler, der uns herausfordert und gleichzeitig sanft in seine Geschichten hineinholt, er ist ein Philosoph, der zusammen mit seinen Gästen unerwartete Zusammenhänge aufdeckt und bewusst macht. In «Nostalgia de la luz», seinem letzten Film, waren es die Wüste und das Universum, in «El botón de nácar» das Bergland und das Meer. Chile hat Vulkane, Berge, Gletscher, Flüsse und 4300 Kilometer Küste. Der Filmemacher lauscht den Stimmen der Natur, vor allem des Wassers, aber auch der Ureinwohner und der Vorfahren im letzten Jahrhundert. Diese Stimmen vereinigen sich zu einem Filmgedicht. Verblüffend und eindrücklich bereits in der Einleitungssequenz, in welcher er einen Wassertropfen zeigt, der seit 3000 Jahren in einem Quarzblock eingebunden ist. Wasser wird zum inhaltlichen und formalen Leitmotiv.

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Ein Perlmuttknopf, der dem Film den Titel gibt

Das unendlich Grosse …

«Wir sind alle Ströme desselben Wassers.» Dieser Satz von Paúl Zurita steht am Anfang des Films. Wie das Wasser alles mit allem verbindet, so werden Menschen mit Menschen verbunden, zusätzlich mit dem All und seinen Sternen, auf denen es Wasser gibt. In Szene gesetzt hat dies Patricio Guzmán, 1941 in Santiago de Chile geboren, in Madrid zum Dokumentarfilmer ausgebildet. 1973 begann er seine legendäre Trilogie «La batalla de Chile», die Salvador Allendes Regierungszeit und sein jähes Ende dokumentiert. Nach dem Militärputsch am 11. September wurde Guzmán verhaftet und gefoltert, danach floh er ins Exil, zunächst nach Kuba, dann Spanien und Frankreich. Seine Filme holen sich weltweit an Festivals Auszeichnungen.

Boton 06Das Wasser, das alles mit allem verbindet

… und das endlich Kleine

Spielerisch verbindet der Filmemacher Weltbewegendes, das zeitlich, räumlich und inhaltlich weit auseinanderliegt, etwa die Schönheit der Meere und der Landschaft mit der Grösse des Universums und bei den Menschen deren Grösse und Brutalität.

In «Nostalgia de la luz» erzählte er von den Frauen, die noch heute im Sand der Wüste nach ihren getöteten Männern und Söhnen suchen. In «El botón de nácar» wird eine Frauenleiche vom Humboldt-Strom herangeschwemmt, die 1980 von den Schergen Pinochets, wie zahllose andere Menschen, mit Stahldraht eingewickelt und mit Eisenbahnschienen beschwert über dem Meer aus Helikoptern abgeworfen wurde. Kommentiert wird diese Szene von einem ehemaligen Hubschrauber-Mechaniker. Taucher haben Leichen gefunden, gehoben und sind dabei auf den Perlmuttknopf gestossen, der bezeugt, dass hier Menschen umgebracht wurden.

Schon vor 10 000 Jahren lebten im heutigen Chile etwa 8000 Wassernomaden, ohne Häuser und Kleider, fantastisch bemalt, die sich mit ihren Kanus fortbewegten. Mit Fotos und Interviews werden sie uns näher gebracht. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stiessen weisse Viehzüchter und Goldgräber mit ihren Soldaten und Missionaren nach Patagonien vor, betrachteten die Eingeborenen als Barbaren, steckten sie in alte Kleider, in denen sie erkrankten, und bekehrten sie auf der Missionsstation Dawson, wo später auch Pinochet seine Gefangenen umgebracht hat. Wer von den Indigenen nicht an Krankheiten oder Alkohol zu Grunde ging, wurde gejagt. Es gab Prämien: für die Hoden eines Mannes, die Brust einer Frau, das Ohr eines Kindes. Exemplarisch für diese kolonialistischen Ereignisse erzählt der Film die Geschichte des Feuerländers Jemmy Button, der nach England gebracht, dort domestiziert und wieder zurückgeschoben wurde, diesen Sprung von der Steinzeit ins Industriezeitalter und zurück aber nicht überlebte. Mit einem harten, Assoziationen auslösenden Schnitt lässt der Film uns den blauen Planeten vom Weltall aus Betrachten, und der Sprecher fragt: «Ist auf diesem Planeten überall das Gleiche geschehen, haben überall die Starken dominiert?»Boton 04

Die Ureinwohner, Wassernomaden, ohne Häuser und Kleider

Eine andere Geschichte Chiles ...

1970 brach in Chile eine neue Zeit an. Salvador Allende wurde Präsident. Ein weiteres lateinamerikanisches Schwellenland entzog sich dem Zugriff der USA und machte sich auf den Weg zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit, diesmal unter hoffnungsvollem Zeichen. Allende war ein Urgestein der parlamentarischen Politik und hatte, anders als viele seiner sozialrevolutionären Amtskollegen, keine militärische Machtbasis. Bodenschätze und Bergbau wurden verstaatlicht, ausländische Konzerne und einheimische Grossgrundbesitzer ein Stück weit enteignet, freie Schulbildung und Gesundheitsvorsorge für alle eingeführt. Nach zwei Jahren hatte er gut die halbe Bevölkerung hinter sich, knapp die halbe gegen sich. Doch Richard Nixon hatte längst seinen Sturz aufgegleist. Am 11. September wurde der demokratisch gewählte Präsident umgebracht und unter Pinochet begann eine Junta. Der Filmemacher Patricio Guzmán gehörte zu den Allende-Bewegten der ersten Stunde und ist es bis heute geblieben. Über die Zeit dieser Regentschaft schuf er den Dreiteiler «La batalla de Chile». In seinen zwei letzten Filmen verschiebt sich der Akzent jedoch von der «Batalla» zur «Nostalgia».

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Christina Calderón, die letzte Nachfahrin der ethnischen Gruppe Yámana

... und der übrigen Welt

Am Anfang des Films rollt die Künstlerin Ema Malig eine auf Wellkarton gezeichnet Chile-Karte aus, die sie am Schluss wieder zusammenrollt und verpackt. Von diesem Land handelt der Film, das ist der eine Rahmen, der andere das Wasser, das alles zusammenhält. «Der Denkvorgang ähnelt Wasser aufgrund seiner Fähigkeit, sich allem anzupassen. Verstand und Wasser gehorchen demselben Gesetz. Beide sind in der Lage, sich allem anzupassen.» Auch «Grausamkeit kennt keine Grenzen», heisst es irgendwo im Film. Auf der ganzen Welt gibt es weiter Besetzer und Besetzte, Siedler und Kolonisatoren, Opfer und Mörder. Wie das Wasser ein Gedächtnis hat, so übernimmt Guzmán diese Aufgabe für uns. Wie das Wasser eine Stimme hat, so erhebt Guzmán seine Stimme für alles, was unter diesem Himmel geschehen ist.

Das Ganze ist ein intellektueller Diskurs, und gleichzeitig ein poetisches Gedicht. Wie schon in seinem letzten Film arbeitet Guzmán mit den gleichen Künstlern, mit Emmanuelle July für die Montage, mit Miranda y Miguel Tobar für die Musik und der französische Kamerafrau Katell Djian. Die Rolle des Erzählers übernimmt der Autor wiederum selbst. «El botón de nácar» ist eine Ballade, doch gleichzeitig mehr: eine Elegie oder ein Requiem, wie eines von Bach, Mozart oder Beethoven - oder es ist, wie Pascal Blum es formuliert, «Bilderarbeit gegen die Vernichtung».

Regie: Patricio Guzmán, Pruduktion: 2015, Länge: 82 min, Verleih: trigon-film