Nostalgia de la luz

Von der Sehnsucht nach dem Licht: Im Filmessay des Chilenen Patricio Guzmán verbinden sich Wissenschaft, Geschichte und Philosophie zu einem Gleichnis gestillter und ungestillte Sehnsucht nach dem Licht.

sternenmeer.jpg

Von der unendlichen Ferne und der endlichen Nähe

In der Atacama-Wüste, wo unlängst 33 Mineros aus 700 Metern Tiefe gerettet wurden, suchen Wissenschaftler im Weltall nach dessen Ursprüngen und suchen Frauen nach den Leichen ihrer verschwundenen oder getöteten Liebsten. Um einen zweifachen Blick in die Vergangenheit geht es dem Film. Zum einen sind es die Astronomen, die mit ihren Teleskopen ins Universum vorstossen, von wo ihnen das Licht in die fernste Vergangenheit schauen lässt. Zum anderen sind es gleich neben dem Observatorium die Frauen, die nach den sterblichen Überresten ihrer Männer und Söhne suchen, welche Opfer der Militärdiktatur wurden, wo aber kein Licht die nahe Vergangenheit erleuchtet. Im einen Fall kommt das Licht aus der Unendlichkeit des Alls bis zu uns. Im andern gelingt es nicht, dass Licht gebracht wird in die Aufklärung der Gräueltaten der Junta Pinochets.

«Ein Land ohne ein dokumentarisches Filmschaffen ist wie eine Familie ohne Fotoalbum», hat Guzmán mal gesagt und seither sein Leben und Schaffen dem Familienalbum gewidmet, einem Album, das jedoch weit über seine Heimat hinaus gültig ist. Denn vieles, was er in seiner Arbeit ans Licht bringt, gilt auch anderswo. In keinem andern Werk ist er indes allgemeingültiger als in «Nostalgia de la luz».

Wer nachts den Himmel betrachtet, schaut in die Vergangenheit; denn das Licht, das jetzt auf die Erde trifft, hat schon vor Millionen Jahren zu leuchten begonnen. Doch gleichzeitig versuchen unmittelbar neben dem Observatorium Frauen seit mehr als zwanzig Jahren erfolglos Licht in die Vergangenheit der Junta zu bringen.

Der Filmessay lädt ein zum Sinnieren über das Licht, das unendlich weit weg einmal zu leuchten begonnen hat und jetzt bei uns ankommt, und über das Licht, das die Menschen nicht anzuzünden vermögen, um die Scheusslichkeiten der nahen Vergangenheit aufzuhellen.

Den Diskurs führt Guzmán in «Nostalgia de la luz» mit Bildern, Gleichnissen, Sinnbildern, Metaphern zwischen der Astronomie und der Geschichte, an Beispiel der erfüllten Sehnsucht nach dem Grossen und Schönen und der unerfüllten Sehnsucht nach einer Sühne für die Unmenschlichkeit, ausgeführt von Menschen an Menschen. Die Stärke und Faszination gewinnt der Film aus den Off-Texten des Filmemachers, den Bildern des Sternenhimmels und der Wüste von Katell Djians und der Authentizität der interviewten Protagonisten.

foto.jpg

Die Menschen des Dramas

Gaspar, der junge Astronom, wurde nach dem Putsch geboren. Während der Diktatur studierte er in Santiago Astronomie. Neben seinen Himmelsbeobachtungen analysiert er mit offenen Augen die jüngste Geschichte seines Landes. Er liebt die Gestirne, aber auch die Menschen.

Der Archäologe Lautaro kennt die Wüste. Tief berührt vom Schicksal der Vermissten, hat er seine Erfahrungen an die betroffenen Frauen weitergegeben, hat ihnen gezeigt, wie sie jedes einzelne Sandkorn beobachten müssen, um herauszufinden, ob unter der Oberfläche ein Leichnam begraben liegt.

Victoria und Violeta sind auf der Suche nach ihren Lieben. Ihre Angehörigen wurden in der Junta umgebracht. Seit nunmehr achtundzwanzig Jahren graben die beiden Frauen von Hand und mit einer Schaufel in der Wüste, sie haben die Suche nie aufgegeben und werden weitersuchen bis zu ihrem letzten Atemzug.

Der Architekt Miguel hat fünf Konzentrationslager überlebt. Er hat sich den Grundriss aller Lager ins Gedächtnis eingebrannt, und als es ihm möglich wurde, ins Exil zu gehen, hat er von jedem Lager präzise Zeichnungen angefertigt, damit kein Chilene je werde sagen können, dass er davon nichts gewusst habe.

Der Hobbyastronom Luís hat im Konzentrationslager gelernt, Sternbilder zu lesen. Er ist ein einfacher Mann, der jedoch die Gabe besitzt, mit einfachen Mitteln astronomische Instrumente zu bauen. Damit führt er auf seine Weise einen stillen Kampf gegen das Vergessen.

Valentina wirkt, obwohl ihre Eltern zu den «Verschwunden» gehören, von allen Charakteren des Films am zukunftsoffensten. Erfrischend und heiter blickt sie auf die Ereignisse, die ihr Leben geprägt haben, vor allem ihr Kind. Die Astronomie hat ihr geholfen, mit dem Verschwinden ihrer Eltern den persönlichen Frieden zu finden.

Die Erinnerung erhält uns am Leben, ähnlich wie die Wärme der Sonne. Ohne die Erinnerung wären wir nichts als tote Hüllen, ohne Geschichte und ohne Zukunft. Nach achtzehn Jahren Diktatur übt sich Chile heute wieder in Demokratie. Doch viele haben ihre Freunde, Verwandten, Häuser, Schulen und Universitäten verloren, andere ihre Erinnerung, vielleicht für immer. Und doch ist die Vergangenheit notwendig für die Herkunft, wie die Utopie für die Zukunft.

mitbaby.jpg

Patricio Guzmán zu Chile und seinem Film

«Wie soll man darüber sprechen, dass Chile das weltweit grösste astronomische Forschungszentrum beheimatet, während sechzig Prozent der von der Diktatur verübten Morde noch immer nicht aufgeklärt sind? Dass chilenische Astronomen Sterne beobachten, die Millionen von Lichtjahren entfernt sind, während die Kinder in ihren Schulbüchern nichts über die Ereignisse in ihrem Land erfahren, die gerade mal dreissig Jahre zurückliegen? Wie erklärt man, dass unzählige Leichen, die das Militär verscharrt hat, wieder ausgegraben und ins Meer geworfen wurden? Wie zeigt man, dass die Suche einer Frau, die mit blossen Händen in der Erde wühlt, der Arbeit der Astronomen gleicht?» Den Nachgeborenen solcher Unmenschlichkeiten, von denen es auf allen Kontinenten ungezählte andere gibt, bleibt nur Wut und Verzweiflung.

«Der Film zeigt ganz unterschiedliche Perspektiven: Er ist metaphysisch, mystisch oder spirituell, astronomisch, ethnografisch und politisch… Wie soll man erklären, dass menschliche Knochen dasselbe sind wie bestimmte Asteroide? Oder dass das Kalzium, aus dem unser Skelett besteht, das gleiche Kalzium ist, das man in Sternen findet?» Staunen ob der Grösse der Schöpfung überkommt uns Zeitgenossen im Anblick dieses Filmes.

www.trigon-film.org