Ernest Cole: Lost and Found
Ernest Cole (1949 ̶ 1990)
Inspiriert vom Satz «Der Zweck der Kunst ist es, die Fragen freizulegen, die von den Antworten verdeckt werden» des Freiheitskämpfers James Baldwin (1924 ̶ 1987) und dokumentiert mit einem Gespräch von Walter Ruggle und dem Regisseur Raoul Peck (trigon-magazin,103) nähern wir uns dem Film, nachfolgend in Ausschnitten, im Anhang integral.
Ernest Cole ist eine wichtige, und doch teilweise vergessene Figur der Geschichte Südafrikas. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film über ihn zu drehen?
Die Nachkommen von Ernest Cole haben mich vor fünf Jahren kontaktiert, etwa in der Zeit, als mein Film «I Am Not Your Negro» herauskam. Ich hatte den Namen Ernest Cole nicht im Kopf, aber erinnerte mich sehr gut an seinen Fotoband «House of Bondage» über das Apartheid-System in Südafrika. Einige dieser Fotos sind Ikonen, und alle, die sich mit Südafrika beschäftigt oder am Anti-Apartheid-Kampf teilgenommen haben, kennen sie. In einem ersten Schritt wollte ich der Familie dabei helfen, das Archiv zu erhalten, das digitalisiert werden sollte. Ungefähr zwei Jahre später kam ich zum Schluss, dass man darüber einen Film machen sollte. Umso mehr, also im Jahre 2017 in einem schwedischen Banksafe 60 000 Negative und Fotos gefunden worden waren. Mit der Entdeckung dieses Schatzes entwickelt sich die Geschichte zu einem regelrechten Thriller.
Sie haben sich dafür entschieden, Ernest Cole als Voiceover aus der Ich-Perspektive erzählen zu lassen. Wie kam es zu dieser Wahl?
Wenn die Geschichte von schwarzen Künstler:innen aufgegriffen wird, die zu Lebzeiten wenig sichtbar waren, passiert dies mehrheitlich aus der Sicht westlicher Chronisten. In der Regel sind sie wohlwollend, aber mit dem Hauch eines Paternalismus behaftet, der ihrer eurozentrischen Sichtweise auf die Figur, das Land und die Weltlage entspringt. Damit hatte ich schon seit meinem ersten Dokumentarfilm «Lumumba: Tod des Propheten» ein Problem. Ich mache Filme, um eine Erinnerung zu schaffen und eine Erzählung zu entwickeln, die möglicherweise von der offiziellen und akademischen abweicht. Ich versuche, diesen «Blick von aussen» zu dekonstruieren. Mein Ansatz dabei ist, die Quellen zu variieren, mich mit Familien und nahestehenden Freund:innen zu treffen, mich auf mündliche Erzählungen zu stützen, wenn sie sich auf «Tatsachen» berufen, und nicht Anekdoten. Da ich beschlossen hatte, dass Ernest seine eigene Geschichte erzählen würde, brauchte ich zuverlässige, ungefilterte Fakten und Ereignisse, um den wahren Ernest Cole zu finden und es ihm zu ermöglichen, sich seiner Erzählung direkt, souverän und unbestritten zu bemächtigen. Ich habe alles durchforstet, was er selbst geschrieben hat, seine Notizen als Fotograf, seine Eindrücke als Künstler. Es gibt kein Tagebuch im eigentlichen Sinne, sondern nur Briefe und Unterhaltungen über seinen Bildband «House of Bondage».
Man spür darin eine Kraft, eine politische Vision, die frappierend ist für einen jungen Mann von 26 oder 27 Jahren. Welche Zeitzeugen haben Sie getroffen?
Mit meinem Team suchten wir alle Menschen auf, die ihm in Südafrika, Schweden, England und in den USA begegnet sind. Wir interviewten sie gründlich, um ihr Empfinden, ihre Erinnerung, ihr Bild von ihm herauszufiltern. Es kamen viele Schlüsselmomente zusammen, Reflexionen, Stimmungen. Zum Beispiel, wenn die Stimme aus dem Off sagt: «Ich habe mehrmals an Selbstmord gedacht.» Das kam von einer langjährigen amerikanischen Freundin, die er als junger Mann bei Magnum kennengelernt hatte. Er nahm später wieder Kontakt mit ihr auf und sie standen sich die letzten sechs Monate seines Lebens wieder sehr nahe, sie lebte an der Westküste, er in New York. Das führte zu langen Telefongesprächen, in denen er ihr erzählte, dass er oft über den Tod nachdachte. Ernest war wütend, er hatte das Gefühl, dass er seine künstlerische Vision nicht verwirklichen konnte. Es war erschütternd, all das zu hören. Ich konnte auch die beiden schwedischen Schwestern ausfindig machen, mit denen er in Stockholm Zeit verbrachte. Sie fotografierten sich gegenseitig und es entstanden bewegende Bilder, die ein wenig die Nostalgie der Bohème versprühen – den Charme jener Nachmittage, an denen man nicht weiss, was man tun soll. Es dauerte lange, dieses junge Mädchen zu finden. Inzwischen war sie 85 Jahre alt. Sie sagte oft, «dass sie sich nicht mehr so gut erinnern könne». Das habe ich in den Film eingebaut. Es ist Zeit vergangen, Ernest wäre heute so alt wie sie, wenn er überlebt hätte.
Im Film analysieren Sie einige Fotos, eines nennen Sie in Anspielung auf den Film von Akira Kurosawa «Rashomon».
Ja, weil dieser Film mehrere Sichtweisen auf ein und dasselbe Ereignis abbildet. Das Foto, das Sie ansprechen und das in Südafrika aufgenommen wurde, gibt ebenfalls mehrere Sichtweisen wieder. Ein Polizist, ein junger schwarzer Mann, ein Passant, mehrere Frauen. Jeder ihrer Blicke sagt etwas anderes aus oder sogar das Gegenteil. Fotograf zu sein bedeutet, mit wenigen Elementen eine ganze Geschichte zu erzählen. Wenn der Blick in die Linse erfolgt, erhascht sie ein Stück Menschlichkeit. Das beschäftigte Ernest Cole. Ich kann das aus seinen Bildern und Kontaktbögen lesen. Er veränderte jeweils seine Position, um diesen Blick in die Kamera einzufangen. In all seinen Bildern gibt es eine Person, die uns beobachtet, die ihn anschaut und oft im Zentrum steht. Ich liebe es, die den Fotos innewohnende Geschichte aufzuspüren. Wer ist der Beobachter? Wer der Akteur? Wer das Opfer? Meine fiktionale Vergangenheit hilft mir dabei, mich in die Figuren hineinzuversetzen.
Ein Satz im Voiceover hebt sich besonders ab: «Wie kann man angesichts all dessen seine Menschlichkeit bewahren? Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.» Sie übernehmen ihn so?
Ja, natürlich. Ernest kommt aus der Apartheid, einem echten Gefängnis unter freiem Himmel, das drastisch reguliert wurde vom Staat. Es ist eine Erfahrung, die einem die Menschlichkeit abspricht. Dann kommt er in New York an mit der Idee, dort als Künstler durchzustarten. Doch man verlangt von ihm vor allem, dass er Schwarze fotografiert, die im Elend leben. Er aber träumt davon, Cartier-Bresson zu sein. Ein Fotograf ist ein Fotograf, und nicht ein «schwarzer Fotograf». Im Nachlass von Cole fand man viele Modezeitschriften und Werbeanzeigen. Das interessierte ihn. Aber man wollte, dass er Schwarze fotografierte, und schickte ihn in den Süden der USA, wo du wegen einer falschen Geste, eines falschen Blicks gelyncht werden konntest. Schrecklich. Er war dort doppelt fremd, und schwarz! James Baldwin hatte das auch erlebt, als er als Reporter in den Südstaaten unterwegs war.