Être et avoir
«Schule» gerät bei Lehrerinnen und Lehrern oft in Gefahr, bloss als kompliziertes Regelwerk, bei Schulpflegen und in der Bildungspolitik als Managementaufgabe wahrgenommen zu werden. Eine ganz andere Wahrnehmung von Schule, Lehren und Erziehen bietet der französische Film «Être et avoir» von Nicolas Philibert, der demnächst in der Schweiz anläuft – und auf poetische Weise die Würde und die Schönheit der Pädagogik zeigt.
Eine kleine Dorfschule in der Auvergne im Wechsel der Jahreszeiten. Georges Lopez, der Lehrer einer altersgemischten Klasse, widmet sich voller Anteilnahme den individuellen Bedürfnissen seiner vier- bis elfjährigen Schülerinnen und Schüler. Er lehrt die Kinder nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern auch Pfannkuchen backen, Traktor fahren und er besucht mit ihnen das Collège, um sie auf die nächste Schulstufe vorzubereiten. Der Pädagoge fördert sie, Probleme zu besprechen, Streite zu klären und unterstützt sie emotional. Auch in seinem letzten Schuljahr vor der Pensionierung kümmert er sich dabei liebevoll, gerecht und bestimmt um «seine» Kinder und lehrt sie, eigenständig zu denken und zu handeln.
Kleine Ereignisse
Nichts äusserlich Sensationelles geschieht in diesem Dokumentarfilm, der wie ein Spielfilm daherkommt, uns unterhält und verzaubert. Alltäglichster Schulalltag. «Mein Wunsch war es, der Arbeit des Lehrers mit den Kindern so nahe wie möglich zu kommen, zu verfolgen, wie sich die Kinder entwickeln, damit der Zuschauer ihre Erfolge, aber auch Enttäuschungen miterlebt», meint der Regisseur. Von «petits evenements» sprach er, die scheinbar banal, in Wirklichkeit jedoch alles andere, nämlich eine wirkliche, eine innerliche Sensation sind.
Was der Lehrer macht und wie der Filmer dies zeigt, verrät hohes pädagogisches Ethos. Ihre Haltung ist erfüllt von grosser Ehrfurcht vor jedem Kind. Wirklich glaub würdig werden sie, weil sie authentisch sind, keine Theorien erzählen, keine Wissenschaft predigen. Der Film ist reine Poesie, «poiesis» verstanden als Schöpfung, als künstlerische Neuschöpfung von Bildung, Erziehung, Leben – in jedem Wort, jedem Bild, jeder Sequenz.
Ein Titel als Programm
Die Hilfsverben «être» und «avoir» werden in der Sprache vor allem in Verbindung mit den andern Verben gebraucht. Durch sie kommen diese erst zu ihrer vollen Entfaltung. Wie «haben» und «sein» in der Grammatik als Grundworte funktionieren, so die Bilder und Töne, die Gesichter und Landschaften dieses Films als Urbilder dessen, was Bildung ist, was Erziehung meint, was Leben bedeutet.
Diese Grundworte wären, so lehrt mich der Film, vermehrt in der Schule zu lehren und zu leben, nicht die tausend Kinkerlitzchen, die die «Gesellschaft» immer wieder von der Volksschule fordert. Betrachten wir vermehrt von diesen pädagogischen Grundbegriffen aus die Schule, dann erleben wir, welche Würde und Schönheit der Beruf der Lehrerin und des Lehrers in sich hat. «Das war wunderbar» meint ein ehemaliger Schüler, «Monsieur Lopez hat uns Respekt und Ausgeglichenheit beigebracht durch seine Art, rücksichtvoll mit uns umzugehen.»