Eyes Wide Open

Drama um zwei homosexuelle jüdische Männer. Eindrücklicher Spielfilm von Haim Tabakman, der aufgrund breiter Recherchen in Israel entstanden ist, aber auch in andern Gesellschaften Gültigkeit hat.

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Als der junge und attraktive Student Ezri in Aarons Laden tritt, scheint dies zunächst nicht mehr als ein glücklicher Zufall. Denn Ezri sucht Arbeit und Aaron bietet solche an. Die beiden verstehen sich schnell und ohne Worte. Im täglichen Umgang mit Ezri erwacht im Familienvater bald ein lange unterdrücktes Verlangen, gegen das er sich nur schwer wehren kann. Er verliebt sich in den Jungen. Unter dem strengen Gewand des Glaubens gerät Aarons Welt zusehends ins Wanken, denn Ezri eröffnet ihm eine bisher unbekannte Welt der Freiheit und Emotionen. Dem tiefgläubigen Aaron beginnt der Boden unter den Füssen weg zu brechen. Der Titel «Eyes wide open» steht für die Haltung der beiden: Es ist wie ein Auto, das genau auf dich zufährt, du gehst bei vollem Bewusstsein nicht weg, mit «weit geöffneten Augen».

Der Regisseur dieses sensiblen und eindringlichen Dramas meint: «Das wirkliche Problem ist, dass in unserer Religion Homosexualität nicht eine Sünde ist, denn sie existiert offiziell gar nicht, wie kann man also mit etwas umgehen, von dem geschrieben steht, dass es das gar nicht gibt? Im Talmud steht, die Söhne Israels sind davon gar nicht betroffen. Gott hat dies so eingerichtet. Homosexuell zu sein ist wie eine Krankheit, die man leicht behandeln kann. Es ist schlicht nicht Teil des menschlichen Wesens.» Dass solche religiöse Regeln (Mitzwot), 613 zählt man in der Tora, Menschen verletzen und zerstören können, wird hier erlebbar gemacht.

Auf die Frage, ob der Film in der jüdischen Gemeinde einen Streit entfachen werde, meint Tabkman: «Ich hoffe es. Es wäre schön, wenn „Eyes Wide Open“ helfen könnte, ein Tabu in der ultra-orthodoxen Gesellschaft zu brechen. Das Leben der Religiösen in Jerusalem heute ist eine Reaktion auf die Furcht, Traditionen zu verlieren.» Viele radikal religiöse Juden – wie auch Muslime und Christen – fussen in ihrem Glauben auf Traditionen und Mythen. Wohin dieser Fundamentalismus führt, sehen wir bei allen drei Schriftreligionen. Welches Unheil sie angerichtet haben und weiter anrichten, erleben wir im Alltag.

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Bei solchen Beziehungen sind jedoch meist auch noch weitere Menschen involviert, hier Rivka, die Frau von Aaron. Sie spürt die Andersartigkeit ihres Mannes und ihr diesbezügliches Nichtgenügen, akzeptiert seine Entfremdung und fügt sich, weil das den Regeln entspricht – der Tradition, den Mythen. Die gesamt Kraft der ultra-orthodoxen Gesellschaft ruht auf dem Gefühl der Reinheit, der Solidarität und auf der Möglichkeit, von den Exzessen der Moderne rein zu bleiben. Der Ursprung dieser Radikalisierung liegt im Widerstand gegen die Sekularisierung im Zeitalter der Aufklärung. Welche Reaktion lange Zeit einherging mit einer sehr menschlichen und noblen Haltung: der stetigen Sorge um die Mitmenschen. In jüngerer Zeit vermissen jüdische Autoren, wie etwa der kürzlich verstorbene Schweizer Jude Ernest Goldberger, diese Verhaltensweise in der heutigen israelischen Gesellschaft.

«Etwas ist faul im Staate Dänemark», heisst es in «Hamlet». Und ähnlich darf, muss man beim Thema Homosexualität feststellen, dass dies nicht nur beim Judentum, sondern auch beim Islam und in etwas abgeänderten Form beim Christentum zutrifft, weil sich alle mosaischen Religionen ähnlich unmenschlich verhalten.

«Der Hauptunterschied zwischen Unterhaltung und Kunst liegt darin», so Heim Tabakman, «dass die Unerhaltung zum Ziel hat, die Zeit schneller vergehen zu lassen, wohingegen die Kunst die spezifische Dichte der Zeit zeigen will. Indem das Kino der Zeit einen Wert gibt, erlaubt es dem Betrachter ein Bewusstsein darüber, was abläuft, was passiert.» Im einen Fall wird die Zeit tot geschlagen, im andern erfüllt. Und diese Fülle, der griechische Καιρός, ist der religiös-philosophische Begriff für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung, dessen ungenütztes Verstreichen nachteilig sein kann, entscheidend in der Handlung des Films und entscheidend im Nachvollzug derselben beim Publikum.