Fallen Leaves
Ansa (l) und Holappa begegnen sich
Mit den «fallenden Blättern» des Titels, die zwar erst gegen Schluss des Filmes vorkommen, meint der finnische Kultregisseur Aki Kaurismäki wohl die zwei einsamen Menschen, die nach missglückten Versuchen sich schliesslich doch noch finden: die Supermarktkassiererin Ansa und den Schweisser Holappa.
Aus zwei Gründen verzichte ich auf eine detaillierte Inhaltsangabe. Erstens, weil mir die adäquaten Worte für die Leichtigkeit und Tiefe, Heiterkeit und Melancholie für Kaurismäkis fallende Blätter fehlen. Und weil ich zweitens den Zuschauerinnen und Zuschauern die Entdeckungen nicht vorenthalten möchte, die sie während dieses zum Lachen und Weinen schönen Filmes erleben.
Der erste gemeinsame Kinobesuch
Die Stadt der verlorenen Seelen ...
Aki Kaurismäki thematisiert in seinem umfangreichen, in vierzig Jahren entstandenen Oeuvre immer wieder Schicksale von gesellschaftlichen Aussenseitern im Arbeitermilieu, wie hier im Zentrum Helsinkis. Seine Werke sind nicht nur für ihre sparsamen Dialoge, sondern auch ihren skurril-lakonischen Humor und ihre verspielt-melancholische Stimmung bekannt. Dafür arbeitet der Filmemacher meist mit einem festen Team befreundeter Schauspielerinnen und Schauspieler, die seine Geschichten stilistisch und atmosphärisch tragen. Matti Pellonpää, Kati Outinen, Kari Väänänen und Sakke Järvenpää sind die Bekanntesten, die den typischen Kaurismäki-Groove erzeugen. Die Plakate vor dem Kino, bei welchem sich unser Paar trifft, die unter anderem für «Pierrot le fou» und «Rocco e i suoi fratelli» werben, verweisen auf seine Lieblingsfilme. Ebenso stammt die Zombie-Komödie, welche die beiden anschauen, von seinem Kollegen Jim Jarmusch. Und wie Hitchcock, den er ebenfalls verehrt, hat auch er in diesem Film seinen Cameo-Auftritt.
Holappa (l) mir seinem Kollegen in der Bar, wo Anna und Kaisa auftreten
... mit feinen Pinselstrichen skizziert
Lediglich auf die dramaturgische und cineastische Meisterschaft Kaurismäkis möchte ich hinweisen, die ihrer Zurückhaltung wegen leicht übersehen wird. Der Regisseur verwendet die filmischen Mittel bravourös, ohne dass sie uns als Gags anspringen, sondern als selbstverständlich, cool und gleichzeitig herzerwärmend daherkommen. Getragen wird die Geschichte des neuen, aus den früheren herausgewachsenen Films von Alma Pöysti als Ansa und Jussi Vatanen als Holappa. Wie nur selten im Kino hat man hier das Gefühl, dass die beiden nicht spielen, sondern ihr Leben leben und wir sie dabei begleiten dürfen.
Die Bilder von Timo Salminon in ihrem berührenden Chiaroscuro, das uns ins Dunkel und ins Helle ihrer Welten holt, die Montage von Samu Heikkilä, die das Alltägliche als alltäglich wiedergibt, das diskrete Sounddesign von Pietu Kohonen mit den Schlagern, die die Handlung vorantreiben und kommentieren, und vor allem die Songs der finnischen Pop-Gruppe «Maustetytöt», in deren Texte hineinzuhören sich lohnt: Youtube: q2jocunnQcI. Ihr Auftritt trägt wesentlich zur Stimmung und Atmosphäre des Filmes bei. Anna und Kaisa Karjalainen bestechen mit Gitarre und Keyboard durch ihre Trockenheit und Askese, eingängigen Melodien, kombiniert mit den düsteren Texten und der unverwechselbaren Performance. «Maustetytöt» gehört zu den bekannten Grössen der Pop-Avantgarde Finnlands und ist inzwischen auch über die Grenzen Skandinaviens hinaus bekannt. Allein ihre erste Single «Tein kai lottorivini väärin» (Ich muss den Lottoschein falsch ausgefüllt haben) wurde auf «Spotify» mehr als fünf Millionen Mal gestreamt. In «Fallen Leaves» haben sie ihren ersten Filmauftritt.
Der Krieg in der Ukraine und Schnulzen dringen auch in Ansas Welt
Alles in diesem wunderbaren Film lebt von der Persönlichkeit Kaurismäkis. «Gut gekühlter Weisswein, Zigaretten, eine nach der andern, und eine leise Stimme, fast flüsternd, als wolle er, wie ein Hypnotiseur, sein Gegenüber ganz und gar auf die beschwörende Stimme konzentrieren, ohne expressive Gesten», so umschreibt ihn ein deutscher Filmkritiker als den Chef-Melancholiker des europäischen Autorenkinos. Seine Filme sind schlingernde Stimmungsreisen: durch Hochs und Tiefs, durch Abgründe. Erst allmählich bemerkt man, dass es vor allem die Abgründe des Selbstzweifels und der Erleuchtungen sind, grundiert von einem scharfkantigen, trockenen Humor».
Beim ersten Abendessen zu Hause
Der ultimative Kaurismäki
«Fallen Leaves» erzählt von zwei einsamen, verlorenen Seelen, die sich zufällig im meist nächtlichen Helsinki treffen und sich langsam näher kommen. Sowohl sie wie auch er sind auf der Suche nach der ersten, einzigen und endgültigen Liebe ihres Lebens. Doch auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es ein paar Hindernisse: seine Alkoholsucht, eine verlorene Telefonnummer, die Unkenntnis der Namen und Adressen des jeweils anderen und nicht zuletzt die Tendenz des Lebens, denen, die ihr Glück suchen, Steine in den Weg zu legen.
«Fallen Leaves» ist ein weiterer betörender Spielfilm des längst Kultstatus geniessenden Aki Kaurismäki. Mit seinem einzigartigen Stil inszeniert der Finne eine zeitlose Geschichte voller Melancholie und nimmt dabei, wie in den meisten seiner Filme, auch Bezug auf das aktuelle Zeitgeschehen und lässt zudem seine unterschwellige Deutung dessen durchscheinen, was im Kapitalismus als Arbeit und Konsum gehandelt wird. Das am Festival von Cannes mit dem Jury-Preis 2023 ausgezeichnete Meisterwerk ist eine Art Fortsetzung seiner früheren Filme, wunderbar, witzig und ergreifend:ein wahres filmisches Juwel. – Für mich persönlich ein tief im Volksgut verankertes Märchen, gelegentlich eine in der Gegenwart spielende biblische Erzählung.
In Erinnerung an «The Kid»
Kommentar des Regisseurs
In der Vergangenheit habe ich mir als Regisseur von irrelevanten, gewaltvollen Filmen eine fragwürdige Reputation erarbeitet. Da mich der Gedanke an all die sinnlosen, unnötigen und kriminellen Kriege in unserer Welt sehr quält, habe ich beschlossen, eine Geschichte über diejenigen Themen zu schreiben, durch die meiner Meinung nach in der Zukunft eine Chance auf mehr Humanität in unserer Gesellschaft besteht: Eine Geschichte über die Sehnsucht nach Liebe, nach Solidarität, nach Hoffnung und dem Respekt für andere Menschen, für die Natur und allem, was in ihr lebendig oder tot ist. In «Fallen Leaves» ziehe ich meinen zu kleinem Hut vor meinen Göttern Bresson, Ozu und Chaplin, aber sollte das Unterfangen scheitern, meine Geschichte zu erzählen, dann bin ich es.
Zum Schluss ein Satz, der auf einem Grabstein, auf vielen Grabsteinen stehen könnte. Aki Kaurimäkis mutige und bedenkenswerte Antwort auf unsere Welt, die so ist, wie sie ist: «Wenn alle Hoffnung verschwunden ist, gibt es keinen Grund für Pessimismus».
PS: Zwei Besprechungen von Kaurismäki-Filmen auf der Website von der-andere-film: «The Other Side of Hope», eine grossartige Parabel des Miteinander und des Füreinander; «Le Havre», mit einem Alten, der gegen den unmenschlichen Staatsapparat kämpft und dabei ein Wunder der Liebe erlebt.