Félix et Meira
Félix und Meira: nah und doch so fern
Félix, ein frankophoner Kanadier, lebt in den Tag hinein, geniesst den Augenblick, ohne Verantwortung und Bindungen. Sein wohlhabender Vater, der ihn vor Jahren verstossen hat, liegt im Sterben. Mit der Aussicht auf eine kleine Erbschaft eröffnen sich Félix mit einem Besuch beim Vater neue Perspektiven für seine Zukunft. Meira, eine chassidische Jüdin, beginnt die strengen Regeln, die ihren Alltag dominieren, zu hinterfragen. In ihrer Ehe mit Shulem fühlt sie sich gefangen, wenn auch manchmal in der Gemeinschaft geborgen. Einzig ihr Töchterchen und die heimliche Leidenschaft für Musik, die sie hinter verschlossenen Gardinen auslebt, trösten sie.
Meira und Félix waren nicht dafür bestimmt, sich zu treffen, geschweige denn, sich zu verlieben. Doch noch während sich zwischen ihnen Sympathie und bald einmal eine zarte Liebe entwickelt, sieht sich Meira vor einen schwerwiegenden Entscheid gestellt: In einer Gemeinschaft mit strikten Gesetzen weiterleben, oder mit ihrem Leben brechen und es für immer hinter sich lassen? Und Félix: In eine fremde Ehe eindringen und eine neue Beziehung aufbauen?
Meira: geborgen und eingesperrt
Kommentar des Regisseurs
«Mile End ist ein multiethnisches Quartier in Montréal, in der Nähe von Outremont. Nach Jerusalem, New York und London gibt es dort eine der grössten ultra-orthodoxen Gemeinschaften der Welt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts nannte man Montréal sogar «das kleine Jerusalem». Als ich ungefähr zwanzig war, bin ich in dieses Quartier gezogen. Ich war sofort fasziniert von meinen neuen Nachbarn, insbesondere von den Chassidim. Nach Beobachtungen und Recherchen entwickelte sich mein Interesse zu einer regelrechten Faszination, die mich schliesslich „Félix et Meira“ drehen liess. Der Film erzählt von zwei Gemeinschaften, die nebeneinander existieren, ohne jemals wirklich miteinander zu kommunizieren. Vor allem aber handelt er vom Aufeinandertreffen zweier ausgegrenzter Personen, zweier fragiler Menschen, die sich von einem verbotenen Abenteuer verführen lassen.
«Félix et Meira» ist die Geschichte von Félix, der im Herzen immer noch ein Kind ist und sich weigert, erwachsen zu werden. Er ist Atheist, der, geprägt von Verlust und Einsamkeit, die Liebe aus falschen Gründen sucht und sich der Tragweite seiner Handlungen erst spät bewusst wird. Und es ist die Geschichte von Meira, einer strahlenden Chassidin, einer Frau und Mutter, die es sich erlaubt, Orte auch ausserhalb der Gemeinschaft zu erkunden. Meira findet durch Félix die Leichtigkeit einer Kindheit, die sie nie hatte.»
Félix: Frei von! Doch frei wofür?
Fremd – tolerant – interkulturell
«Félix et Meira», diese berührende und unmögliche Liebesgeschichte zweier verschiedener Menschen, wird durch die einfühlsame und kritische Schilderung zu einem Gleichnis verschiedener Gruppen, Völker und Religionen. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die sich gegenüberstehen und versuchen, aufeinander zuzugehen, um die Fremdheit zu durchbrechen und das Gegenüber zu verstehen. Doch leider gibt es dies im Zwischenmenschlichen und im Gesellschaftlichen nur selten, bleibt die Geschichte also idealtypisch. Betrachten wir die Situation zwischen Israel und Palästina oder das, was zwischen den Flüchtlingen aus dem Süden und Osten und den Eingesessenen in Europa abläuft. Doch Kunst ist fähig und gefordert, solche Gegenwelten und Utopien zu erschaffen.
Aus diesem Grund empfiehlt es sich, die Nuancen in der Beziehung zwischen Félix und Meira genau zu beobachten und zu hinterfragen. Da ist das Fremde, das verunsichert und Angst macht, an das sich die beiden vorsichtig herantasten. Félix war neugierig auf die andersartige Frau, rannte ihr nach, hörte ihr zu, ging auf sie ein. Meira verliess das Haus der Geborgenheit und Beengung, durchbrach die Grenzen der Regeln und Normen, wagte sich ins Neuland. Was der Regisseur Maxime Giroux und die Kamerafrau Sara Mishara mit ihren ohne Kunstlicht aufgenommenen Bildern festhalten, sind Verunsicherung, Verletztheit, aber auch Bereitschaft zu Toleranz und Menschlichkeit.
«Félix et Meira» erzählt von der Ausgelassenheit von Félix und der Sehnsucht nach Poesie von Meira. Verrückt und poetisch kann Kunst sein, kaum die Politik. Verrücktheit und Poesie können im Leben Mauern abbrechen: zwischen Einzelnen, Gruppen, Völkern, Religionen. Leider wird die Kunst nur selten als Gegenpol zum Irrsinn und zur Absurdität der Wirklichkeit gesehen. Gegenwelten aber entsteht am ehesten beim Überschreiten der Kulturen, wenn sie interkulturell sind. Ein Film wie «Félix et Meira» macht dies erlebbar – und wirbt dafür. «Wohin werden wir gehen?», fragt Meira gegen Schluss, worauf ihr Félix antwortet: «Wir werden einen Ort finden.»
Shulem (rechts) sucht bei einem Rabbi Rat
Aus einem Interview mit Maxime Giroux
Wie haben Sie die Aufgabe gelöst, aufzuzeigen, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt?
Ich mache eigentlich immer Filme über Leute, die ich nicht kenne, aber kennenlernen will. Um der chassidischen Gemeinschaft näherzukommen, begab ich mich auf Fahrradtouren: Ich betrat Synagogen und gab mich dabei naiv, ich tat so, als ob ich nicht wüsste, dass ich nicht willkommen war. Ich begann, chassidische Juden in New York und Montréal zu treffen. Zu Beginn hatte ich viele Vorurteile. Diese Gemeinschaft war mir zuwider. Der Kontakt mit den Chassidim war nicht immer selbstverständlich, aber ich habe Leute mit einem unglaublichen Sinn für Humor und mit einer grossen Lust zu Feiern kennengelernt. Je näher ich ihnen kam, desto mehr sah ich Tiefe und Spiritualität, die ich selbst nicht habe, sowie einen Sinn für Gemeinschaft. Zugleich blieb ich aber dabei, ihre Abgeschlossenheit absurd zu finden, ihre Fixierung darauf, nie anders zu leben. Ich glaube, mein Film zeugt von alledem.
Mehrere Darsteller sind ehemalige Chassidim. Welchen Einfluss hatte dies auf das Drehbuch?
Als wir die Schauspieler fanden, war das Drehbuch schon geschrieben; ihre Erfahrungen hatten aber einen grossen Einfluss auf die Dreharbeiten. Mit ihrem Zutun wurde der Film dramatischer. Denn eine jüdisch-chassidische Gemeinschaft zu verlassen ist eine weitreichende, unwiderrufbare und mutige Entscheidung. Man verlässt sie ohne Ausbildung, ohne Geld, ohne Freunde, man ist komplett allein. Zumal sich ein Leben, das seit der Kindheit religiös geführt wurde, nicht von heute auf morgen vergessen lässt. Es braucht eine unglaubliche Kraft, es braucht Mut, sogar eine wenig Wahnsinn. Der Film handelt nicht zuletzt von dem Mut, im Einverständnis mit sich selbst zu leben.
Regie: Maxime Gigoux, Produktion: 2014, Länge: 105 min, Verleih: Cineworx