Fremont
Donya, aus Kabul geflohen
Die Afghanin Donya konnte nach der Machtübernahme der Taliban in die USA fliehen und versucht jetzt, im kalifornischen Fremont ein neues Leben aufzubauen. In einer chinesischen Bäckerei kann sie Botschaften für Glückskekse verfassen und damit dem eigenen Schicksal etwas auf die Sprünge helfen.
Pause mit Kollegin in der Glückskekse-Fabrik
Director’s Statement
Der Spielfilm «Fremont» handelt von einer Migrantin in einem neuen Land. Selbstverständlich gibt es keine einheitliche Migrationserfahrung. Die Gründe, das Heimatland zu verlassen, sind vielfältig, jede und jeder hat eigene Träume und Wünsche für die Zukunft und die neue Heimat. Oft bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart. Und für Menschen, die weit weg von zuhause ganz von vorne anfangen, liegt die Vergangenheit nie wirklich hinter ihnen.
Mit diesem Film möchte ich die Idee überwinden, dass es so schrecklich viele Unterschiede gibt zwischen den Menschen. In einer Welt, in der so viel Wert auf die Überzeichnung des Andersseins gelegt wird, ist es wichtig, nach universellen Gemeinsamkeiten zu suchen. Ob jemand eingewandert oder einheimisch ist, die Hoffnungen, Träume und Ambitionen sind sich sehr ähnlich. Die Hauptfigur, Donya, eine temperamentvolle junge Frau und ehemalige Übersetzerin für das US-Militär, fühlt, dass sie aufgrund ihrer eigenen Lebensentscheide dort ist, wo sie ist. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht leidet oder sich entwurzelt fühlt. Sie ist entschlossen, die Dinge zu verändern, möchte aktiv sein, sich wohl fühlen, sich verlieben und akzeptiert werden wie die meisten andern Menschen auch.
Obwohl «Fremont» die schwierige Situation einer Afghanin und ihr neues Leben in Amerika betrachtet, ist sein Stil nicht im sozialen Realismus angesiedelt. Beobachtungen über die Absurditäten der kulturellen Anpassung und Gefühle der Entwurzelung können auch durch Humor dargestellt werden. Selbst wenn die hier erkundeten Themen manchmal düster sind, gibt es auch in der Dunkelheit Humor. Als Filmemacher ist mir das Element der Leichtigkeit immer wichtig gewesen. Humor in Situationen zu zeigen, die trostlos sind, vermindert weder die Ernsthaftigkeit noch die Tiefe einer Geschichte. Es kann sie sogar noch realer machen und ihr zusätzliche Dimensionen verleihen. «Wer weint, hat nur einen Schmerz. Wer lacht, hat tausend und einen Schmerz», sagt ein Sprichwort.
Beim Psychiater in der Gesprächstherapie
Träumen mit Donya
Donya hat als Übersetzerin in ihrer afghanischen Heimat für die US-Regierung gearbeitet und konnte sich im letzten Moment nach Amerika absetzen. Jetzt lebt sie im kalifornischen Fremont, schreibt Weisheiten für Glückskekse und träumt. Der Filmemacher führt uns mit zärtlichem Humor und wohltuender Lakonik vor Augen, was Menschen einander näherbringen kann. Donya lebt in einem Haus mit anderen aus Afghanistan Eingewanderten. Sie kann kaum schlafen, isst oft allein in einem örtlichen Restaurant und schaut regelmässig Soaps. Ihre Routine fernab der Heimat ändert sich, als sie in ihrem Job in einer Glückskeks-Fabrik zum Glücksengel befördert wird. Während ihre Lebensweisheiten von wildfremden Menschen in der ganzen Bay Area gelesen werden, treibt Donyas schwelende Sehnsucht sie an, eine eigene Botschaft in die Welt hinauszusenden, ohne zu wissen, wohin diese sie führen wird.
Der aus dem Iran stammende Regisseur zeichnet in seinem zweiten Film stilsicher, mit grosser menschlicher Wärme und leisem, schrägem Humor das liebevolle Porträt einer jungen Frau, die von der Vergangenheit verfolgt wird, aber vom Wunsch nach Gemeinschaft und Verbundenheit erfüllt ist. Mit der hervorragenden Besetzung der Nebenrollen und dem brillanten Einstand der geflüchteten Anaita Wali Zada in der Hauptrolle, ist «Fremont» eine Ode an die seltsame und gelegentlich etwas schräge Schönheit des Versuchs, ein neues Leben in einem fremden Land aufzubauen. Das Zusammentreffen mit Daniel gegen den Schluss macht den Film allein schon sehenswert. Denn mit Daniel und Donya schweben wir mit auf der Wolke Poesie. Die Art und Weise, wie Babak Jalali filmt, erinnert an Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch und entlockt wohl da und dort ein leises Schmunzeln.
Mit dem chinesischen Fabrikdirektor
Schritt um Schritt, Bild um Bild, Wort um Wort hinein in Donyas Poesie
Abwesend blickt die 20-jährige Donya auf die dampfenden Maschinen der Glückskeksfabrik. Mit Haarnetz und Uniform beobachtet sie die metallischen Zapfsäulen, aus denen zähflüssiger Teig gepresst und zu dünnen, runden Plätzchen verarbeitet wird. Auf einem kleinen weissen Zettelchen steht zum Beispiel geschrieben «Now is a good time to explore.» Ähnliche Weisheiten legt sie in die flachen Kekse hinein, bevor sie zu Schiffchen geformt werden. Die Arbeit ist monoton und langweilig, doch gibt es nette Arbeitskolleginnen. Aber Donya hat noch andere Probleme, so leidet sie an Schlafstörungen. Ihre Familie musste sie zurücklassen, was ihr ein schlechtes Gewissen verursacht. Jeden Abend liegt sie Stunden lang wach, bevor der Wecker sie am Morgen zur Arbeit klingelt. Sie braucht Medikamente. Doch der Psychiater, zu dem sie gehen kann, verschreibt ihre keine Schlaftabletten, sondern eine Gesprächstherapie in seiner Praxis.
Als eine Mitarbeiterin in der Fabrik plötzlich stirbt, wird Donya befördert. Sie darf die Sinnsprüche für die Glückskekse schreiben. Der Psychiater rät ihr, die Chance zu nutzen, um ihr Innenleben zu Papier zu bringen. Sie wird kreativ und schreibt verschiedene Einzeiler auf, die in der ganzen Bay Area gelesen werden. Eines Tages verschickt sie eine persönliche Botschaft in die Welt hinaus. Aufs Papier schreibt sie «Desperate for a Dream» und ihren Namen samt Telefonnummer. Nach einigen Tagen meldet sich eine unbekannte Person via SMS. Kurzerhand beschliesst Donya, ihr persönliches Glück zu suchen und begibt sich auf eine Reise.
In wunderbaren schwarzweissen und 4 : 2 kadrierten Bildern blicken wir auf ihr Leben, dessen Vergangenheit sie immer noch belastet. Doch der Film beschreibt das Thema Flucht und Migration auf andere Weise als die gängigen Dramen. Er ist beflügelt von feinem lakonischem Humor. In teils langen Einstellungen setzt Babak Jalali auf Alltagsszenen und schafft in ihnen Irrwitz und kuriose Momente. Ein Beispiel dafür ist die Situation, als Donya befördert wird und ihr der chinesische Chef einen Kopfmassagestab schenk. Dieser helfe ihm beim kreativen Denken, und er gibt ihr gleich noch den Tipp auf den Weg, dass die besten Glückskeks-Schreibenden diejenigen sind, die sich in der Liebe auskennen und sich selber lieben.
Donya mit dem Automechaniker
Die universelle Gemeinsamkeit – eine Würdigung zum Weitersinnieren
Der Film enthält zahlreiche tiefgründige Szenen über das grosse Thema Flucht. Wie fühlt es sich an, in einem neuen Land zu leben, in dem man niemanden kennt? Soll man versuchen, ein neues Leben aufzubauen? Oder besser auf eine Rückkehr warten? Darf man überhaupt über Liebe und Partnerschaft nachdenken, während andere Frauen weiter in Kabul leben? Einmal fragt sie eine Frau im Quartier, ob denn traurige Mütter auch traurige Kinder bekämen. Donya antwortet in ihrer ruhigen Art, dass die Kollegin sich nicht isolieren soll. Im ganzen Film geht es darum, aufzuzeigen und in zahllosen Szenen anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben, dass die Welt nicht aus den Abgrenzungen, den Unterschieden, dem Anderssein besteht, sondern aus dem Gemeinsamen, das die Menschen zusammenhält, sie erst zu Gemeinschaftswesen macht: zu Menschen einer Menschenwelt.