Fuocoammare

Ein anderes Lampedusa: Ein Jahr lang beobachtete Gianfranco Rosi Leben und Alltag auf Lampedusa, der «Insel der Hoffnung», die zur Anlaufstelle unzähliger Flüchtlinge wurde. Entstanden ist «Fuocoammare», ein aufrüttelnder Dokumentarfilm darüber und über das Leben an sich.
Fuocoammare

Ein Afrikaner schildert mit einem Rapp seine Flucht

Wir alle haben TV- und Pressebilder von Lampedusa im Kopf, weshalb ich mich vor dem Film fragte, wie der 1964 in Asmara (Eritrea) geborene italienische Dokumentarfilmregisseur Gianfranco Rosi wohl diese Situation angehen würde. Ich glaube, einiges bemerkt zu haben. Fürs Erste war der Filmemacher nicht nur ein paar Tage, sondern ein ganzes Jahr auf der Insel. Zweitens richtete er seinen Blick nicht nur auf die humanitäre Katastrophe, sondern auch das Leben rundherum. Entstanden ist so ein aussergewöhnlicher Film über Lampedusa – und gleichzeitig mit den vielen gezeigten Geschichten ein Gleichnis für das Leben allgemein.

Der Filmtitel bedeutet «brennendes Meer» oder «Leuchtturm», in einer Szene heisst so ein Schlager. Das gleichzeitige Miteinander verschiedener Stories bedeutet das Sowohl-als auch von Glück und Unglück. Dass auf der Welt gleichzeitig Grausamkeit und Schönheit, Liebe und Gewalt herrschen, wird in dem mit Geduld und Empathie realisierten «Fuocoammare» intensiv erlebbar. Wir geniessen die Schönheit und verzweifeln ob der Grausamkeit, im Film und im Leben. Es scheint, «Himmel» und «Hölle» gehören zusammen, sie bilden unsere «conditio humana».

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Samuele, auf der Pirsch nach jungen Vögeln

Gianfranco Rosi führt uns in den Film ein

Im Herbst 2014 bin ich das erste Mal nach Lampedusa gefahren, um die Möglichkeiten auszuloten, einen 10-minütigen Film für ein internationales Festival zu drehen. Die Idee des Produzenten war, einen Kurzfilm zu machen, der dem faulen und mitschuldigen Europa, das nur ein diffuses und verzerrtes Bild der aufkeimenden Flüchtlingskrise hatte, eine andere Seite von Lampedusa zu zeigen. Das sah auch ich so. Als ich aber auf der Insel war, stellte ich fest, dass sich die Realität stark von dem unterschied, was man in den Medien und der Politik fand, und mir wurde bewusst, dass es unmöglich ist, ein so komplexes Gefüge wie das von Lampedusa in wenige Minuten zu pressen.

Man wird für längere Zeit komplett eintauchen müssen. Es wird nicht einfach werden. Ich wusste, ich werde einen Weg finden müssen. Dann passierte etwas Unvorhergesehenes: Ich musste wegen einer schlimmen Bronchitis zur örtlichen Notaufnahme und traf dort Dr. Pietro Bartolo, den einzigen Doktor auf der Insel, der schon seit Jahren jede Ankunft von Flüchtlingsbooten begleitet. Er beurteilt, wer ins Krankenhaus gebracht, wer inhaftiert wird und wer verstorben ist. Nicht wissend, dass ich ein Regisseur auf der Suche nach einer Story war, erzählte er mir von seinen Erfahrungen mit den medizinischen und humanitären Notfällen. Seine Worte berührten mich tief. Ein gegenseitiges Verständnis entwickelte sich zwischen uns, und mir wurde klar, dass er ein Protagonist im Film werden könnte. Nach anderthalb Stunden intensiven Gesprächs schaltete der Doktor seinen Computer ein, um mir Bilder zu zeigen: herzzerreissende, nie zuvor gesehene Bilder, so dass ich die Realität des tragischen Schicksals der Migranten «mit meiner Hand berühren» konnte.

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Dr. Pietro Bartolo, der einzige Arzt auf der Insel

Meine Entscheidung, nach Lampedusa zu ziehen, änderte alles. In meinem Jahr auf der Insel überstand ich den Winter und dann die Fischersaison. Ich lernte den wahren Rhythmus der Flut der Migranten kennen. Es war wichtig, die Vorgehensweise der Medien zu durchbrechen, die nur nach Lampedusa strömten, wenn es eine Katastrophe gab. Als ich dort lebte, verstand ich, dass der Begriff Katastrophe bedeutungslos war. Denn jeden Tag gab es eine Katastrophe, passierte etwas. Um das reale Ausmass der Tragödie zu erfassen, muss man nicht nur vor Ort sein, sondern auch laufend Kontakt haben. Nur so war ich in der Lage, die Gefühle der Inselbewohner zu verstehen, die seit zwanzig Jahren zusehen, wie sich diese Tragödie ständig wiederholt.

Seit der Einführung der Rettungsoperationen von Mare Nostrum, die versucht, Boote auf See abzufangen, sind auf Lampedusa keine Flüchtlinge mehr zu sehen. Sie ziehen wie Phantome vorbei. Sie gehen im alten Hafen von Bord, werden mit Bussen zur Identifizierung in die Auffangstation gefahren und nach ein paar Tagen aufs Festland befördert. Was die Ankunft betrifft, gibt es nur einen Weg, die Auffangstation zu verstehen, hineinzugehen und sie aus der Nähe zu betrachten. Eine Welt in einer Welt für sich, abgeschnitten vom Alltag auf der Insel.

Die grösste Herausforderung war, einen Weg zu finden, dieses Universum zu filmen und dabei nicht nur Wahrheit und Realität, sondern auch Menschlichkeit darin zu offenbaren. Bald verstand ich, dass sich die Grenze, die einst Lampedusa war, aufs Meer verschoben hatte. Ich verbrachte etwa einen Monat auf der «Cigala Fulgosi», die zu dieser Zeit an zwei Missionen teilnahm. Auch dort lernte ich erst den Rhythmus, die Regeln und Gebräuche an Bord kennen, bis wir auf die Tragödien stiessen, eine nach der anderen. Die Erfahrungen beim Filmen dieser Ereignisse kann ich nicht beschreiben.

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Operation Mare Nostrum

Die Montage, die dem Film Sinn gibt ...

Bücher entstehen aus Sätzen, Filme aus Sequenzen. Erst die Montage der Sequenzen gibt dem Film seinen Sinn. «Fuocoammare» hat etwa vierzig Sequenzen: in sich abgeschlossene Erzählungen, Kurz- oder Kürzestgeschichten. Für die Montage zeichneten hier Jacopo Quadri und der Regisseur verantwortlich.

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Der Lokalradio-Moderator Pipo

... und die Sequenzen, die deuten helfen

Die ungefähre Sequenzenliste, wie ich sie bei der Visionierung am Computer festgehalten habe:

1. Der 12-jährige Samuele bastelt mit einem Kameraden eine Steinschleuder.

2. Operation Mare Nostrum: 250 Menschen in Seenot werden gerettet.

3. Radiomoderator Pipo macht Unterhaltungssendungen, er singt dazu.

4. Eine Frau kocht, hört seine Musik und dass wieder Menschen gerettet wurden.

5. Samuele geht mit seinem Freund nachts mit Lampen auf die Pirsch nach Vögeln.

6. 150 Menschen in Seenot fordern Hilfe an, werden mit einem Helikopter und Schiffen gerettet.

7. Samuele lauscht dem Vater, wie dieser ihm mit Fotos von seinem Seemannsleben erzählt.

8. Der Junge trifft einen Kumpel, der mit dem Motorrad auf den Strassen herumrast.

9. Pipo moderiert weiter und unterhält seine Hörerschaft.

10. Samuele mit Freund auf der Vogeljagd. Ein Mann geht vorbei.

11. Dieser ist ein Taucher, der zum Meer geht.

12. Dr. Bartolo erklärt auf dem Ultraschallbild einer Schwangeren den Zustand ihrer Zwillinge.

13. Buben schnitzen Gesichter in Kakteen, zerschiessen sie und flicken sie wieder.

14. Boot mit Flüchtlingen landet. Sie werden gezählt, untersucht, fotografiert und weggefahren.

15. Der Taucher geniesst die Meerestiefe, sammelt Muscheln.

16. Samueles Mutter flickt Wäsche, er liest für die Schule einen englischen Text. Draussen stürmt es.

17. Sturm. Feuer am Himmel. Zwei Rettungsschiffe auf hoher See.

18. Die Jungen simulieren Vögel-Abschiessen, während ein Rettungsboot aufs Meer fährt.

19. Alte Frau wünscht vom Lokalradio, dass das Lied «Fuocoammare» gesendet wird.

20. Samuele beim Augenuntersuch bei Dr. Bartolo. Er sieht auf einem Auge schlecht.

21. Nacht. Neue Flüchtlinge kommen an. Ein Schwarzer besingt in einem Rapp seine Fluchtreise.

22. Samuele mit Vater auf dem Deck ihres Bootes. Er wehrt sich gegen Seekrankheit. Es wird gefischt.

23. Die Mutter kocht Fische. Spaghetti-Essen der Familie.

24. Samuele macht Stehtest auf dem schwankenden Schiff.

25. Dr. Bartolo erzählt anhand seiner Computerbilder von seinen Erfahrungen mit Flüchtlingen.

26. Flüchtlinge auf der Aufnahmestelle warten, telefonieren, streiten sich und spielen Fussball.

27. Samuele übt, einäugig mit seiner Schleuder zu schiessen.

28. Pipo erfüllt am Radio weitere Hörerwünsche.

29. Altes Paar beim Kaffee, sie hören das Radioprogramm.

30. Der Taucher verlässt sein Hause, um im Meer zu tauchen.

31. Samuele lernt in der Schule mit seinem Banknachbarn.

32. Ein Freund lernt Samuele rudern.

33. Samuele sitzt vor dem Hause eines Schulkollegen und dessen Vater.

34. Dr. Bartolo untersucht den Jungen und spricht mit ihm über seine Gesundheit.

35. Rettung eines Bootes. Sterbende. 40 und nochmals 15 Tote. Eine Frau stirbt, Tote im Unrat.

36. Militärkreuzer im Meer. Radar dreht sich. Himmel mit partieller Mondfinsternis.

37. Samuele nachts auf Pirsch, entdeckt verstörtes Vögelchen.

38. Alte Frau, die zu klassischer Musik liebevoll die Betten macht und zwei Heiligenstatuen küsst.

39. Pipo im Radiostudio, sinniert vor sich hin.

40. Samuele auf dem schwankenden Steg, schiesst fingiert in den Himmel

Regie: Gianfranco Rosi, Produktion: 2016, Länge: 108 min: Verleih: Xenixfilm