Zu Ende leben

Rebecca Panian lässt in ihrem klugen und heiteren Dokumentarfilm «Zu Ende leben» über das Sterben sinnieren. Entstanden ist dabei ein Hymnus auf das Leben.
Zu Ende leben

Könnte es nicht sein, dass wir uns heute in einer Zeit der Ent-Tabuisierung des Sterbens und des Todes befinden? Und sich diese Entwicklung gleichzeitig vom Christlichen entfernt und einem neuen Humanismus nähert? Wenn dem so ist, trifft der Film «Zu Ende leben» von Rebecca Panian den Kern dieser Befindlichkeit, dieses Bewusstseins präzise. In der Hauptgeschichte erzählt er nämlich von einem Menschen, der gegen eine Krankheit ankämpft, bis er sie zu akzeptieren beginnt. Weiter schildert er dessen Umfeld. Und zwischen beiden Handlungen kommentieren fremde Aussagen das Thema.

Der Protagonist und die Regisseurin

Sportlich, unternehmungslustig, meist gut gelaunt ist Tom; voller Ideen lotet der Hauptprotagonist Grenzen aus und verwirklicht seine Träume ohne Wenn und Aber. Wer ihm begegnet, vermuten nicht, dass er eine tödliche Diagnose hat, die ihn mit seiner Endlichkeit konfrontiert. Doch sie zieht ihn nicht hinunter, sondern lässt ihn aufblühen.
Die Regisseurin, die 1978 geborene Schweizerin Rebecca Panian, war schon in verschiedenen Berufen tätig, dreht seit 2006 Kurzfilme und arbeitet gegenwärtig am Master in Spielfilmregie an der Zürcher Hochschule der Künste. «Zu Ende leben» ist ihr erster langer Dokumentarfilm, der am Zürich Film Festival 2014 den Publikumspreis erhalten hat: Ein überraschend optimistisches Werk, das vom Sterben handelt, doch vor Leben sprüht.

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Der Hautprotagonist Tom Niessl

Rebecca Panian zu ihrem Film

«Wir planen und verplanen unser ganzes Leben: Geburt, Schule, Karriere, Ehe, Familie. Nur den Tod ignorieren wir, obwohl er genauso zum Leben gehört wie die Geburt. Durch den Tod meines Vaters und durch das Erleben seiner fünfjährigen Krankheit habe ich gelernt, dass es unsinnig ist, den Tod zu verdrängen, denn er kommt, ob wir wollen oder nicht. Vor allem aber habe ich in dieser Zeit begriffen, dass mein Leben intensiver und reicher wird, wenn ich den Tod nicht verdränge, sondern im Gegenteil ihn willkommen heisse in meinem Leben. Warum? Weil ich nicht mehr in der Zukunft lebe, sondern im Hier und Jetzt. Es mag paradox klingen, aber ich bin überzeugt: Unser „normales" Verhalten, das Verdrängen des Todes, bringt uns nicht mehr Lebensqualität, sondern nimmt sie uns. „Die Angst vor dem Tod hält uns nicht vom Sterben ab, sondern vom Leben." Dieser Spruch drückt in einfachen Worten aus, warum ich diesen Film machen wollte.»

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Tom, ausgelassen und lebensfreudig

Der Hauptprotagonist Tom Niessl

Tom Niessl, 1962 geboren, fährt seit seiner Jugend Motocross, gelernt hat er Motorradmechaniker. Mit der Zeit macht ihm seine Arbeit jedoch Probleme, wird er unzufrieden, fällt in eine Depressionen, bekommt Lähmungserscheinungen am Bein, starke Kopfschmerzen. Er geht zum Arzt. Diagnose Glioblastom, ein bösartiger Hirntumor. Doch er zieht sich nicht zurück, gibt nicht auf, nimmt seine Krankheit als Herausforderung und schliesslich als Chance. Was paradox klingt, bestätigt seine Familie: Seit er krank ist, lebt er gut gelaunt und positiv gestimmt. Heute wohnt er mit einem Bruder und dessen Kindern in seinem Haus und steht in engem Kontakt mit seinen Eltern und vor allem einer Schwester. Er lebt sein Leben, solang es geht, wie lange, das weiss er nicht. Nach einiger Zeit des Kampfes gegen den Krebs entschliesst er sich, auf die Schulmedizin zu verzichten, versucht es mit alternativen Methoden.

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Die Regisseurin Rebecca Panian

Gesprächspartnerinnen und -partner

Zusätzlich zur Geschichte mit Tom und seiner Familie hat Rebecca Panian neunzehn Männer und Frauen, junge und alte, Laien und Professionelle, vor die Kamera gebeten, um sich über Sterben und Tod zu äussern. Diese Statements weiten das Einzelschicksal zu einem umfassenden Menschenschicksal aus: zu einem Essay aus Bildern und Tönen, Erlebnissen und Reflexionen über die letzten Dinge. Mit verschiedenen Perspektiven und Haltungen bietet «Zu Ende leben» Gedanken, Ideen und Anregungen, öffnet die Augen, bestätigt oder verunsichert Bekanntes und stellt Fragen, auf welche wir unsere persönlichen Antworten finden müssen. Hier einige Ausschnitte:

Die Pflegefachfrau Onko-Spitex Christine Kaderli: «Man sagt ja so jovial: Du musst nichts im Leben, ausser sterben. Das ist das, was sicher ist. Aber genau damit setzen wir uns nicht auseinander.» Der Chefarzt für Palliative Care und Geriatrie Roland Kunz: «Den plötzlichen Tod verhindern wir. Indem wir überall Defibrillatoren aufstellen. Indem wir alle Menschen in Reanimation ausbilden.» Die Publizistin Daniele Muscionico: «Natürlich muss sich der Mensch gegen den Tod auflehnen, denn er beschneidet ihn in seiner Kompetenz und in seiner vermeintlichen Macht und in seiner Entscheidungsfreiheit.» Dimitri: «Wenn wir ewig leben würden und es den Tod nicht gäbe, würden wir gar nicht begreifen, was Leben ist.» Franz Hohler: «Leben ist Wachstum. Leben ist Bewegung. Leben ist Liebe. Leben ist Denken. Und irgendwann ist Leben auch Sterben.»

Der Maler und Plastiker Gottfried Honegger: «Wenn ich etwas verstehen kann, so ist es der Tod. Es war und es ist nicht mehr. Punkt. Ich würde nie annehmen, dass ich in den Himmel komme oder in die Hölle oder auferstehe.» Die Pfarrerin Katharina Hoby-Peter: «Die Kirche hat uns zu lange eingeredet, dass die Menschen sündige Wesen sind, die darauf warten müssen, aus dem Jammertal erlöst zu werden, um in die ewige Herrlichkeit einzukehren, wenn sie ‚gut' gelebt haben.» Der Schauspieler und Regisseur Andrea Zogg: «Wenn jemand für sich entscheidet, dass er lieber gehen will, dann wüsste ich nicht, wer das Recht hat, das zu verwehren.»

Nik Hartmann: «Sterben ist genauso ein Wunder, wie die Geburt. Das kommt dann irgendwann.» Die Mutter Kerstin Birkeland: «Leben? Etwas enorm Zerbrechliches, Unvorhersehbares. Etwas, bei dem es null Sicherheit gibt – und genau deshalb sollte man jeden Moment geniessen.» Die Urgrossmutter Margrit Stebler: «Wenn morgen mein letzter Tag wäre, würde ich all mein Geld abheben und eine Riesen-Party veranstalten.»

Solche und ähnliche Sätze, die Gedanken auslösen, und Episoden der Geschichte, die Gefühle wecken, begleiten uns über den Film hinaus. Beim einen ist es ein Statement, bei der anderen eine Szene, bei diesem jener Moment in Toms Leben, bei jener ein anderer, welcher unter die Haut geht, in die Seele dringt.

Vielleicht müsste man nach dem Film «Zu Ende leben» die bekannten «fünf Sterbephasen» von Elisabeth Kübler-Ross einmal neu hinterfragen und in die heutige Zeit hinein weiter denken.

Regie: Rebecca Panian, Produktion: 2014, Länge: 91 min, Verleih: Filmcoopi