Flying Home

Viele Familien kennen in ihrer Verwandtschaft einen «Onkel aus Amerika».
Einen solchen porträtiert der Schweizer Dokumentarist Tobias Wyss in «Flying Home» unterhaltsam und ernst zugleich. Mit einer grossen Materialfülle vermag er, sich und uns seinem Onkel näher zu bringen und dabei eine Persönlichkeit zu schildern, die auch am Schluss noch geheimnisvoll bleibt – und uns animiert, ähnlichen Geschichten in der eigenen Familie nachzugehen.

Der Protagonist Walter Otto Wyss, WOW genannt, wandert 1939 in die USA aus. Mit zwei Leidenschaften, dem Automobil und der Fotografie. In der neuen Heimat entwickelt er ein revolutionäres Hybridauto, das jedoch nie produziert wird. Nach einer Liebesbeziehung mit einer afro-amerikanischen Tänzerin in Los Angeles lernt er Ende der 1950er Jahre in Tokyo als Einsiedler Japanisch. Die letzten 30 Jahre verbringt er einsam auf Hawaii. Trotz vieler Gelegenheiten, seinen Traum von Freiheit, Erfolg und Geborgenheit zu verwirklichen, kann er sich nie von der Schweiz, seiner Mutter und einer Schuld befreien. In Zürich hat er seinerzeit einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht.

WOWs Neffe, der Filmregisseur Tobias Wyss, erzählt die Geschichte seines Onkels auf persönliche Art und Weise und greift dabei auf Fotos und Videos aus dem Familienarchiv zurück. In sieben Episoden rekonstruiert er die reiche und widersprüchliche Biografie seines Onkels.

Ein Leben im Dialog mit seiner Mutter

Der Film erzählt die Biografie aus einer subjektiven Perspektive, so wie Tobias Wyss sie entdeckt hat. Das Fragmentarische dieser Biografie wird in «Flying Home» sorgsam sichtbar gemacht. Am Anfang steht ein enthusiastisches Bild des «Onkels aus Amerika», das der Regisseur hinterfragt und diesem nach und nach mit Fakten und Indizien aus dem Nachlass mit archäologischer Neugierde auf den Grund geht. Das anfangs ausschliesslich positive Bild bekommt allmählich Risse.

Tobias Wyss: «Als 24-jähriger Student hatte er mit seinem Auto einen Velofahrer angefahren und tödlich verletzt. Am meisten beschäftigte mich, dass dieser tragische Unfall für meine Familie scheinbar gar nie stattgefunden hatte.»

Nach dem Studium verlässt der junge Ingenieur sein Land und beginnt ein Leben fernab der Schweizer Konventionen. Über 300 Briefe und Postkarten schickt er in den folgenden 30Jahren seiner Mutter nach Comano: Ein Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn, das die filmische Handlung einrahmt und einen Bogen spannt zwischen dem, was Walter als sein Leben vermittelt, und dem, was der Regisseur über das Leben seines Onkels herausfindet.

Aus einem seiner Briefe: «Liebes Mami, weisst Du überhaupt, wie scheu ich bin? Zu scheu, jemanden anzusprechen oder zu besuchen. Ich dachte, es würde so viel los sein, und jetzt lebe ich ganz für mich allein. Zum Glück bin ich weit weg, und Du musst Dir keine Sorgen machen.»

Kurz nach seiner Ankunft ergattert der Immigrant auf der Worldfair in New York seinen ersten Job als Kundenberater im Swiss Pavillon. Auf dieser Messe entsteht eine Fotografie, die WOW neben seinem Vorbild Henry Ford zeigt, die aber beim Regisseur erste Zweifel an Walters Selbstdarstellung auslöst. Während er eine vielversprechende Karriere als Ingenieur bei Ford beginnt, verkauft seine Familie in der Schweiz den Unfallwagen W2.

«New York, April 15th 1939. Mein Wagen W2 ist allem nach verkauft worden. Ich hatte ihn eigentlich ganz vergessen und daran erinnert worden zu sein, hat mich irgendwie wehmütig gestimmt. Am liebsten hätte ich ihn in einen Sarg gepackt, so dass er wohl noch dagewesen, aber dennoch aus der Welt geschafft gewesen wäre.»

Allmählich durchdringt ein bitterer Beigeschmack die von seinem beruflichen Erfolg gezeichnete Collage-Welt. Als wolle er diesen übertünchen, macht er sich Dandy-like auf die Suche nach einer geeigneten Frau fürs Leben. Und obwohl er in der afro-amerikanischen Tänzerin Martinique Landois eine treue Gefährtin findet, entscheidet er sich einige Jahre später wieder fürs Alleinsein. Im Beruf kann er weiterhin Erfolge vorweisen. So soll er für die Firma Beechcraft ein modernes Hybrid-Auto, den «Plainsman», entwickeln. Der Kalte Krieg macht ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung: Seine Entwürfe werden nie realisiert, er wird Ende der 40er Jahre entlassen.

«5. August 1948. Es ist wie verhext. Niemand ist mehr am Projekt interessiert! Mami, ich weiss nicht, was es ist, doch es scheint mir, dass ich, wenn nicht Du mir immer wieder geschrieben hättest, wahrscheinlich nie mehr etwas von mir hätte hören lassen. … 24. Januar 1949. Liebes Mami, Es ist etwas in mir, das mich lähmt, heim zu kommen. Ich wäre froh, wenn ich genau wüsste was. … Trotzdem bist Du der einzige Grund für meinen Besuch in der Schweiz.»

WOW beendet seine berufliche Karriere in Amerika und widmet sein Leben mit Hingabe der Fotografie, bevor er in Japan eine neue Leidenschaft entdeckt: die japanische Sprache. Radio-Hörspiele erlauben ihm, die Sprache autodidaktisch zu erlernen und sich in fiktiven Lebenswelten von der Realität abzukapseln.

«Liebe Mamy ... Der Inhalt des Gelesenen und Gehörten interessiert mich immer mehr, und statt mein eigenes Leben zu leben, habe ich mich ganz in das Leben der Leute in den Geschichten vertieft. Es ist wie wenn ich darin verloren ginge. Das ist nicht, was ich wollte, aber es ist ganz allmählich von selbst so gekommen, und ich habe nicht die Kraft, es zu ändern.»

Porträt und Selbstporträt zugleich

Das Leben als Autodidakt und Kenner der japanischen Romankultur lässt den Einsamen auch nicht zur Rast kommen. Er macht sich auf zur nächsten Station, Honolulu. Hier trifft der Regisseur Tobias Wyss zum ersten Mal persönlich auf seinen Onkel. Dem Bild des erfolgreichen, begabten Ingenieurs steht ein gebrechlicher Mann gegenüber.

Tobias Wyss: «Gegen Abend hatte ich mich an meinen seltsamen, sparsamen, einsamen Onkel gewöhnt und begann, ihn immer mehr zu mögen, genau so wie die vielen anderen Onkel Walter, die ich mir immer vorgestellt hatte.»

Nach seinem Tod hinterlässt Walter Otto Wyss ein Archiv mit 20’000 Fotografien undDiapositiven, mit Briefen, Postkarten und Fotoapparaten, die dem Film als unerschöpfliche Quelle dienen. Die Ankunft seines Nachlasses in Comano, der Unfall mit dem Velofahrer, die Fotografie mit Henry Ford, das Hybridauto «Plainsman», die Begegnung mit Martinique Landois, Walters Exil in Japan und Honolulu – diese Stationen geben dem Film seine Struktur und fassen dieses Leben als facettenreiche filmische Biografie zusammen. In dem Raum, der sich zwischen den Dokumenten aus dem Nachlass und den Ergebnissen von Tobias Wyss’ Spurensuche auftut, steht die Frage nach dem Bild und Selbstbild eines Menschen, nach dem eigenen und fremden, was auch Fragen an uns und unser Leben stellt. Für Tobias Wyss ist «Flying Home» nicht bloss ein Porträt eines Fremden, sondern gleichzeitig «eine Art Selbstporträt durch den Spiegel seines „Onkels in Amerika“».