Gefangen im Netz
Eine der Schauspielerinnen
Jugendliche sind in den digitalen Medien massiven Bedrohungen durch Cyber Grooming ausgesetzt, Handlungen mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen. Die Schauspielerinnen im sozialpädagogischen und filmischen Experiment waren während zehn Tagen auf Facebook, Skype, Snapchat, haben gewartet und geschaut und wurden schliesslich von 2458 Männern online kontaktiert. Die meisten fragten nach Sex am Bildschirm, schickten eindeutige Fotos und Links zu Pornoseiten, einige versuchten, sie zu erpressen. Die Männer nutzten deren Naivität, Unwissenheit oder Unerfahrenheit schamlos aus.
«Caught in the Net» dokumentiert eindringlich, was ähnlich überall auf der Welt geschieht, was vom ersten Klick bis zum Treffen mit den Männern abläuft. Eine der Schauspielerinnen erzählt: «Gleich am ersten Tag hat es mir die Sprache verschlagen, als ich dasass und die Nachrichten hereinkamen. Ich konnte es nicht fassen, was dabei passierte. Ich fühlte mich hilflos, war sauer und hasserfüllt gegen diese Männer.»
Die Filmcrew arrangierte zusätzlich 21 Treffen mit Undercover-Bodyguards und erfuhr dabei, dass manche Männer schon Hotelzimmer gebucht oder Bustickets gekauft hatten, um die Mädchen zu sich zu holen. Die Täter versuchten zudem, bevor die Fachleute des Experiments die Polizei eingeschaltet hatten, diese mit Kinderpornos zu erpressen, bis es zu Anzeigen und 52 Strafverfahren kam. Mit «Gefangen im Netz» haben Barbora Chalupová und Vít Klusák das Phänomen des sexuellen Kindesmissbrauchs, den es auch bei uns gibt, öffentlich gemacht.
Dreh in den Privatzimmern der Mädchen
Von der Manipulation zur Abstumpfung
Die Regisseurin Barbora Chalupová dazu: «Es geht um Manipulation. Das ist das Hauptthema des Films. Ein 16-jähriges Mädchen hätte bei einer Masturbationsanfrage im realen Leben den Typen in die Hölle gejagt, aber eine 12-Jährige, die am Computer einem Mann gegenüber sitzt, der so alt ist wie ihr Vater, eine Autorität, die Skype ausmacht, traut sich nicht zum Widerspruch, hat Angst. Denn der Mann hat sie vielleicht schon am Haken, hat Fotos von ihr und es kann zu Erpressung kommen, was in unserem Film auch passiert ist.»
Viele Männer reden nicht lange um den heissen Brei. «Ich habe mich erniedrigt gefühlt», sagt eine der Schauspielerinnen, «ich kann mich noch erinnern, als ich das erste Skype-Gespräch hatte und der Mann direkt anfing zu onanieren, wusste ich überhaupt nicht, was ich machen soll, ich sass da und konnte nicht mal abschalten. Und nach dem zwanzigsten, fünfzigsten Gespräch, in denen sich immer wieder einer "einen runterholte", hatte ich festgestellt, dass ich immun wurde, ja ok, ein weiterer Penis! Der Schock war weg.» Doch das ist exakt das zweite Problem: Kinder, die solchen Überfällen ausgesetzt sind, verstehen nicht mehr, wie sie handeln können, sie gewöhnen sich daran und werden abgestumpft.
«Gleich am ersten Tag hatte es mir die Sprache verschlagen», sagte eines der Mädchen, «als ich dasass und die Nachrichten nur so «aufploppten». Ich konnte echt nicht fassen, was da gerade passierte. Ich war unbeholfen, sauer. Ich fühlte Hass gegen und Mitleid mit Männern, die so armselig sind oder ein Problem haben, zwölfjährige Mädchen anschreiben zu müssen.»
Die drei Schauspielerinnen
Vom Internet zum realen Leben
Von Zeit zu Zeit lesen und hören auch wir von solchen und ähnlichen Ereignissen. Hier ein Beispiel aus Deutschland. In einem grossen Missbrauchsfall in Bergisch-Gladbach im Jahre 2019 kamen die Ermittler auf Spuren von mehr als 30'000 Verdachtsfällen eines internationalen Netzwerks von Pädokriminellen im deutschsprachigen Raum und Chatgruppen mit bis über tausend Leuten. «Männer, die vor der ersten Tat noch Hemmungen haben, werden von andern bestärkt, ihre Neigungen auszuleben, und erhalten Ratschläge, wie sie ihren Treffs besonders interessant machen können», sagt Markus Hartmann von der Staatsanwaltschaft Köln. Schon allein die Zahlen machen sprachlos. Zusätzlich erhöht sich die Gefahr solchen Missbrauchs, dass bei manchen Tätern der Weg aus der Anonymität des Netzes in die reale Welt nicht lang ist.
So sind die Abgründe im Internet: Vermeintlich zwölfjährige Mädchen chatten mit erwachsenen Männern: «Macht es nichts, dass ich zwölf bin?» – «Nicht, wenn es unser Geheimnis bleibt.» – «Macht es dir wirklich nichts aus, dass ich zwölf bin?» – «Ich versuche, nicht darüber nachzudenken.» – «Warum sollte es mich stören, wenn wir uns gut finden?» – «Wen interessierts. Ich war auch mal 12.» So und ähnlich tönte es. Der Film «Gefangen im Netz» hat in Tschechien zwei Dutzend Ermittlungsverfahren und ein grosses juristisches und mediales Nachspiel ausgelöst.
«Was die Arbeit mit der Polizei angeht: Wir wollten mit dem Projekt niemanden kriminalisieren», sagt die Regisseurin, «sondern bloss die Tür zur Wahrnehmung dieses Phänomens öffnen, niemanden lynchen. Doch zu Beginn wussten wir noch nicht, dass Männer uns mit Kinderpornos zu erpressen versuchten. Ab diesem Moment konnten wir nicht mehr schweigen. Und als die Polizei uns bat, i unser Material zu geben, haben wir es gemacht. Ich glaube, es sind jetzt 52 Strafverfahren mit Männern im Gang.»
Schauspielerin am Laptop, von der Filmkamera beobachtet
Informationen über die Situation in der Schweiz
(aus den Unterlagen des Filmverleihs)
· 99 % der 12 - bis 19-Jährigen haben ein eigenes Handy/Smartphone.
· 73 % der Jugendlichen haben einen eigenen Computer/Laptop.
· 11 % der Primarschüler*innen haben einen eigenen Computer im Zimmer.
· 24 % der 6- bis 13-Jährigen haben einen Internetzugang im eigenen Zimmer.
· 84 % bzw. 82 % der Eltern sind regelmässig in der Nähe, wenn ihr Kind im Internet surft bzw. soziale Netzwerke nutzt (Jugend und Medien).
· 44 % aller Schweizer Jugendlichen haben auf dem Handy oder im Computer schon mal Pornofilme angeschaut.
· 23 % der 18 - 19-Jährigen haben erotische Bilder von sich selbst verschickt (JAMES-Studie 2018).
· 30 % aller Jugendlichen haben bereits Cybergrooming erlebt.
· 34 % der Mädchen und 25 % der Jungen in der Schweiz wurden schon mal von einer fremden Person online mit unerwünschten sexuellen Absichten angesprochen (JAMES-Studie 2018).
· Fast jede*r Dritte 12 - 13-Jährige hat schon mal eine Internetbekanntschaft gehabt; bei den 14 - 15-Jährigen waren es etwas mehr als jede*r Dritte (JAMES-Studie 2018).
· Laut der Optimus-Studie wurde jedes dritte Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren in der Schweiz schon einmal mit anzüglichen Bemerkungen belästigt, erhielt pornografische Fotos oder Videos oder wurde zu sexuellen Handlungen vor der Webcam aufgefordert. Bei den Jungen waren es rund 10 Prozent (Kinderschutz Schweiz).
· Nur 3 - 5 % der Täter*innen im Netz sind Pädophile (Zitat aus dem Film). Das sind Menschen mit sexueller Ausrichtung auf vorpubertäre Kinder.
· Man spricht von Cybergrooming, wenn eine erwachsene Person im Internet Kontakt mit einem Kind mit dem Ziel aufnimmt, sexuelle Handlungen vorzunehmen. In Chats, Foren, Dating-Apps, Online-Games oder sozialen Netzwerke können Pädosexuelle einfach und anonym Kontakt zu Kindern und Jugendlichen herstellen. Sie geben sich häufig als Jugendliche aus, versuchen herauszufinden, ob das Gegenüber an Sex interessiert ist und ob die Möglichkeit für ein reales Treffen besteht. Erscheint die erwachsene Person am vereinbarten Treffpunkt, macht sie sich strafbar wegen Versuchs von sexueller Handlung mit Kindern, Art. 187 in Verbindung mit Art. 22 StGB, (Jugend und Medien).