Gloria

Der Chilene Sebastián Lelio stellt in «Gloria» eine wunderbare Frau vor, die mit 58 Jahren noch einmal zu leben und zu lieben beginnt. Meisterhaft inszeniert und grossartig verkörpert von Paulina García. Ein Ereignis!

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Gloria (Paulina García) und ihr Partner (Sergio Hernándes)

«Gloria» war am diesjährigen Filmfestival in Berlin der grosse Publikums- und Kritikerliebling, vorab Paulina García, welche die Rolle der Gloria überzeugend verkörpert: sensible, wahr und dennoch geheimnisvoll. Dem chilenischen Regisseur Sebastián Lelios ist mit diesem Porträt einer älteren Frau, die intensiv lebt und liebt, ein grosser Film gelungen. Die Protagonistin ist eine mitreissende Anti-Heldin, wie man ihr im Kino nur selten begegnet.

Gloria ist 58, geschieden. Ihre Kinder längst aus dem Haus. Ihr Bürojob ist für sie eher Last, denn Lust. Allein will sie ihre Tage und Nächte nicht verbringen. So tanzt sie voller Lebensfreude an Single-Partys und flirtet, was das Zeug hält. Wieder einmal ist eine Party in vollem Gange, die Stimmung bestens und Gloria schiebt sich durch die Menschenmenge, auf der Suche nach dem Richtigen. Die zufällige Begegnung mit einem früheren Bekannten bewahrt sie zwar davor, die Singleparty allein verlassen zu müssen. Doch der gleichaltrige Joaquin entpuppt sich schnell als wenig geeignet für eine längere Beziehung. So verbringt Gloria wieder einmal ihre Nacht allen mit der haarlosen Katze ihres lärmenden Nachbarn. Von solchen Turbulenten des Alltags lässt sie sich aber nicht entmutigen, trägt es mit Fassung und Humor.

Als sie bei einem ihrer weiteren Streifzüge durchs Nachtleben von Santiago de Chile den Rentner Rodolfo (Sergio Hernandez) kennenlernt, entwickelt sich daraus mehr als ein One-Night-Stand. Der ehemalige Marineoffizier ist wirklich an ihr interessiert, und langsam weicht die jahrelang eingeübte Zurückhaltung der Alleinstehenden einer neuen Offenheit. Es entsteht Nähe und Intimität zwischen den beiden. Was hoffnungsvoll beginnt, wird für Gloria bald zu einer emotionalen Achterbahnfahrt. Doch diese Frau lässt sich nicht unterkriegen, nach jedem Rückschlag steht sie wieder auf.

Rodolfo, seit einem Jahr geschieden, schafft es noch nicht, sich endgültig von seiner Familie zu lösen, während Gloria seit längerer Zeit auf der Suche nach einem neuen Leben und der Zukunft gegenüber offen ist. Anfangs versuchen beide mit viel Energie und Schmetterlingen im Bauch, das Beste aus ihrer Vergangenheit zu machen. In der ungestörten Zeit wachsen sie immer mehr zusammen. Gloria nimmt ihren neuen Freund zur Geburtstagsfeier ihres Sohnes mit und stellt ihn ihrer Familie vor. Doch Rodolfo fühlt sich fehl am Platz und verschwindet ohne ein Wort. Über dieses Verhalten ist Gloria empört und verletzt, dass sie den Kontakt zu ihm abbricht. Doch irgendwann hat sein Betteln und Flehen Erfolg. Sie lenkt ein, sie versuchen einen zweiten Anlauf. Ein gemeinsamer Urlaub in einem Hotel am Meer soll die nötige Ungestörtheit bringen und ihre Liebe beleben. Die Chancen stehen ganz gut. Doch ein Anruf von Rodolfos Tochter vereitelt auch diesen Neuanfang. Gloria ist am Boden zerstört. Erst nach einer durchzechten Nacht, mithilfe einer Freundin und einem phantasievollen Rachefeldzug gegen Rodolfo kommt sie mit sich wieder ins Reine. Am Ende steht sie wieder allein auf einer Tanzfläche. Mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein beginnt sie zu tanzen, zu lachen und zu feiern, anfangs noch zaghaft, dann immer energischer, fröhlicher und lebhafter stürzt sie sich hinein in das ausgelassene Treiben, mitten hinein ins volle Leben.

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Sie lieben, streiten, versöhnen und trennen sich wieder.

Ein grosser Regisseur und eine grosse Darstellerin

«Gloria» beschränkt sich radikal auf einen einzigen Blickwinkel: jenen von Gloria. Es gibt kaum Einstellungen, in denen sie nicht präsent ist. Die Beharrlichkeit, mit der sie in die Mitte gerückt wird, hilft dem Zuschauer, sich selbst in sie hineinzuversetzen, ihre Gefühle nachzuempfinden. Dabei spielt Gloria neben den Schicksalen derer, die sie umgeben, nüchtern betrachtet, eine Nebenrolle. Eine Herausforderung für die Verfilmung war es, eine Protagonistin, die sachlich als Randfigur agiert, emotional in den Mittelpunkt zu stellen.

Für das Schreiben des Drehbuches durch Sebastián Lelio und Gonzalo Maza und später für das Rollenstudium von Paulina García dienten Erlebnisse, die ihnen berichtet wurden, als Inspirationsquellen. «Gloria» erzählt die Geschichte einer bestimmten Frau, diese stehlt jedoch stellvertretend für andere irgendwo auf der Welt. Glorias persönliche Begehrlichkeiten bringen auf subtile Weise die latenten Bedürfnisse auch der chilenischen Gesellschaft zum Ausdruck. Gloria ist so etwas wie ein weiblicher Rocky. Gegen beide scheint sich die Welt verschworen zu haben. Für den Regisseur war dieser Freiheitswille einer der Hauptgründe, diese Geschichte zu verfilmen.

Sentimental und gleichzeitig sinnvoll sind die Worte des Schlagers «Gloria» von Umberto Tozzi aus dem Jahre 1979, die Lelio dem Nachspann unterlegt: «Gloria, du fehlst mir wie die Luft, ich vermisse dich wie das Salz, vermisse dich mehr als die Sonne. Schmelze den Schnee, der meine Brust erstickt. Ich erwarte dich, Gloria!» Mit diesem Ohrwurm entlässt der Film die Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen ins reale Leben aus der wunderbaren Geschichte von Gloria, auf die, anders als im Schlager, jedoch niemand gewartet hat …

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Zum Beginn und am Ende bleibt eine Sehnsucht.

Tiefsinnig und leicht zugleich

Gloria ist für mich eine Frau, die lieben will, weil sie leben will, die leben will, weil sie überleben will. Erst durch die Liebe gibt es Leben, meint Thomas von Aquin in seinem berühmten Satz: «Amor ergo sum» (Ich werde geliebt, also bin ich). Erst im Lieben und im Geliebt-Werden entsteht also Leben.

Leben und Lieben verkörpert Gloria, indem sie für individuelle und gesellschaftliche Freiheit kämpft. Nicht zufällig baut Lelio, im Hintergrund angespielt, die politische Situation Chiles in die persönliche Geschichte Glorias ein. Ihr privates Begehrten wird zum gesellschaftlichen Aufbegehren, zum Kampf auch gegen das Verdrängen des Alters.

Weil der Film nicht mit einem Happy Ende schliesst, bleibt Gloria «auf dem Weg», ganz im Sinne von Marcel Gabriels «homo viator» (Der Mensch als Gehender) – und lädt uns, die wir an ihrem Schicksal Anteil genommen, auch dazu ein. Dieses Auf-dem-Weg-Sein macht den Film spannend, existenziell spannend.

Das waren drei persönliche Überlegungen, welche «Gloria» bei mir ausgelöst hat, weil der Film mit Paulina García mich so berührt und herausgefordert hat. Doch um niemand abzuschrecken, will ich gerne festhalten: «Gloria» ist verständlich, unterhaltsam, an einigen Stellen zum Lachen, über die ganze Länge zum Lächeln und verbreitet eine tiefe stille Freude und eine grosse Sehnsucht, es Gloria gleich zu tun …

Trailer

Auszüge aus Interviews mit dem Regisseur und der Hauptdarstellerin von «Gloria» enthalten aufschlussreiche Hintergründe, die das Filmerlebnis noch vertiefen. PDF

Interview mit dem Regisseur und der Hauptdarstellerin von «Gloria»

Mit dem Regisseur Sebastián Lelio

Wie wurde die Idee zu diesem Film, der Geschichte einer Frau namens Gloria, geboren?

Das Projekt «Gloria» ergab sich aus Überlegungen darüber, ob es wohl möglich wäre, einen Film über die Frauen aus der Generation meiner Mutter zu drehen, und, falls ja, wie ein solcher Film aussehen könnte. Ausserdem hatte ich die Eingebung, dass man für ein gutes Filmsujet manchmal viel weniger weit zu suchen braucht, als man es sich vielleicht zunächst gedacht hatte. Ich hatte einfach Lust, den mir vorerst noch fremden Planeten dieser Generation, das Alte, zu erforschen und zu sehen, was mir dort wohl begegnen wird.
Diese Frauen, die auf die 60 zugehen und sich im heutigen Santiago de Chile durchs Leben schlagen, fand ich irgendwie faszinierend: Typen wie Gloria eben, die sich in einer ihnen nicht gerade wohl gesonnenen Umgebung über Wasser zu halten versuchen, die sich beim Autofahren laut singend bei Laune halten, die weitgehend auf sich selbst gestellt sind, für die niemand sonderlich viel Zeit zu haben scheint und die trotz all der Jahre, die sie schon hinter sich gebracht haben, immer noch nicht zu resignieren bereit sind. Stattdessen gieren sie unverdrossen nach Leben, sie gehen tanzen und wollen sich vergnügen. Der Film mochte sich für ihr Recht einsetzen, eben dies zu tun, und er tut dies am Beispiel einer liebenswerten Frau, die sich mit allem, was sie hat, ihre Lebensfreude erhalten will.

Der Lebensmut Ihrer Gloria ist in der Tat beeindruckend, an ihr ist aber auch die Einsamkeit älterer Menschen gut zu beobachten, die von den eigenen Kindern nicht mehr gebraucht werden und die sich mit der Partnersuche schwer tun. Stellen diese Probleme unsere alternden Gesellschaften vor neue Herausforderungen?

Ich denke schon. Auf die 60 zuzugehen, ist heute kein Synonym mehr für den langsamen Ausstieg aus dem Leben. Heute hat man an diesem Punkt ein ganzes Kapitel vor sich, mit all den Dingen, die das Leben mit sich bringt: Liebschaften, Probleme, Herausforderungen und so weiter. Und damit wird Gloria in meinem Film konfrontiert, genauso wie jeder von uns damit früher oder später davon betroffen sein ist. Mein Film lädt den Zuschauer dazu ein, Partei für Gloria zu ergreifen. Ihr Bemühen, trotz aller Schwierigkeiten nicht aufhören zu leben, sorgt vielleicht bei manchem Zuschauer für eine Erleuchtung, das hoffe ich zumindest.

Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit den Darstellern beschreiben?

«Gloria» ist ganz auf die zentrale Protagonistin des Films zugeschnitten. Daher stand Paulina García, die Hauptdarstellerin, durchwegs im Mittelpunkt des ganzen Projekts. Der Film wurde ihr sozusagen auf den Leib geschneidert. Ihr Gegenüber ist Sergio Hernández, ein Darsteller, den ich sehr bewundere und durch die Arbeit an diesem Film kennen lernte. Beide zeichnen sich durch ein kraftvolles und fesselndes Spiel aus, was die ganze Sache erheblich erleichterte.

Wir gingen von dem Prinzip aus, dass die Drehorte ein Terrain darstellten, für das uns das Drehbuch eine Art Landkarte liefern sollte, was übrigens der Grund dafür ist, dass wir zwei Jahre lang am Skript arbeiteten. Auf dieser Grundlage konzipierten wir ein Set, das Raum fürs Improvisieren liess. Die Darsteller wurden so gezwungen sein, ihr Innerstes zu erforschen, um Lösungen für jede einzelne Szene zu finden. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, dass auch unbewusste Elemente zum Vorschein kommen konnten: Dinge, die ihren eigenen Gesetzen folgten, die Würze in die Filmhandlung brachten und schliesslich zur eigentlichen Essenz der Erzählung wurden.

Mit der Hauptdarstellerin Paulina García

Wie haben Sie sich auf lhre Figur vorbereitet?

Zum Einstieg überhäufte mich Sebastian mit Büchern und Filmen. Dann kam die Phase der Bühnenproben, in der wir gemeinsam jede einzelne Szene analysierten. Wir überlegten uns dabei, wie sich diese Szenen visuell ausnehmen würden und wie wir Glorias Verhältnis zu den anderen Filmfiguren ausgestalten sollten. In den zwei Monaten vor Drehbeginn hatte ich mich so sehr in Glorias Welt vertieft, dass ich am Ende den Eindruck hatte, als würde ich aus einem tiefen Traum aufwachen.

Worin bestand die grösste Herausforderung bei dieser Rolle?

Gloria muss feststellen, dass sich der Gang der Dinge um sie herum ihrer Kontrolle entzieht. Ihre eigenen Gesten haben gleichzeitig etwas Zartfühlendes, Entschlossenes und Präzises. Diese drei Eigenschaften in sich zu vereinen, war keine leichte Aufgabe.

Wie würden Sie Sebastián Lelios Regiestil beschreiben?

Sebastian hat eine sehr entspannte Art zu arbeiten. Er selbst ist ein heiterer Typ, und so verlief auch der Dreh in einer äusserst angenehmen und vertrauten Atmosphäre. Erst lässt er einem jede Menge Freiheit, doch dann kann es passieren, dass er sie dir mit einem Schlag wieder wegnimmt! Gleichzeitig ist er sehr anspruchsvoll. Gestützt auf seine Beobachtungen, arbeitet er mit höchster Konzentration und sucht so lange, bis er gefunden hat, was er will. Er hat alles im Griff.