Grozny Blues
Angepasste junge Frau auf der Suche
«Grozny Blues» passt, wie es der Filmkritiker Pascal Blum beschreibt, quasi auf den Millimeter genau in den Wettbewerb des Dokumentarfilmfestivals in Nyon, wo er seine Uraufführung hatte, und wo man nichts so sehr hasst wie «Didaktizismus und Naturalismus» und wo man «dem Erfassen des Sichtbaren zur Andeutung des Unsichtbaren» nachspürt, wie es der Direktor ausdrückt. Bei diesem Film geht es darum, aus der bekannten Realität das Unbekannte aufscheinen zu lassen. Diesem Wegweisung folge ich hier und schaue genau auf die (gezeigten) Fragmente der Realität und suche das Verborgene dahinter. Kein leichtes Unterfangen, doch es lohnt sich.
Ungeschöntes Tohuwabohu
Als Nationalheld gefeierter Verführer
Der Dokumentarfilm «Grozny Blues» erzählt vom Alltag der Menschen in Grozny, der kriegsversehrten Hauptstadt Tschetscheniens. Zwei Kriege, der erste von 1994 bis 1996, der zweite von 1999 bis 2009, haben rund 160 000 Tote gefordert. Die anhaltende Repression, eine beschleunigte Islamisierung, einengende Traditionen, Perspektivenlosigkeit, eine fehlende Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und, für einen kleinen Teil der Bevölkerung ein von Russland bezahlter Luxus, prägen das Leben. Im Mittelpunkt stehen drei Freundinnen, die in einem zerfallenen Haus unter Lebensgefahr für die Menschenrechte im Land kämpfen, eine ist zwischenzeitlich in die Schweiz, eine andere nach Belgien geflohen. Im Kontrast dazu befindet sich im Untergeschoss eine Gruppe junger, westlich orientierter Musiker. Der Film erzählt von Ängsten und Träumen, von Überlebenskünsten und Anpassungsversuchen. Er lässt Anteil nehmen an Lebens- und Liebesgeschichten, vollzogenen und befürchteten Zwangsheiraten, Auswirkungen der religiösen und staatlichen Knebelung, die die einen erleiden, die andern nicht wahrnehmen können oder wollen.
Der in Italien geborene, heute in Basel lebende Regisseur Nicola Bellucci, der seit «Nel giardino dei suoni» als sensibler und gleichzeitig radikaler Filmemacher gilt, schafft es, zum Teil mit verbotenen Drehs, eine Verbindung herzustellen vom Persönlich-Intimen zum Politisch-Gesellschaftlichen, zeigt auf, was es bedeutet, in einem Niemandsland zwischen Krieg und Frieden, Repression und Freiheit, Moderne und Mittelalter zu leben.
Der normal paradoxe Alltag
Die zwei Über-Väter Putin und Kadyrow
«Es ist so leicht, aus einem Volk ein Terroristenvolk zu basteln», schreibt die slowakisch-schweizerische Schriftstellerin und Journalistin Irina Brežná, «Es braucht dazu nur einen Informationskrieg nach altem KGB-Handbuch, ein paar Wahnsinnige mit Sprengstoffgürteln und Koransuren sowie die Bequemlichkeit und Dumpfheit der Weltöffentlichkeit. Nach diesem Rezept hat Russland über ein Jahrzehnt Tschetschenien flächendeckend bombardiert, Konzentrationslager errichtet, Zehntausende Männer, Frauen, Alte und Kinder verschleppt, gefoltert und hingerichtet, ohne dass auch nur Sanktionen verhängt worden wären. Es gab bisher nie ein Kriegstribunal zu Tschetschenien – und es wird es wohl auch nie geben. Unter Boris Jelzin hiess der schmutzige Kolonialkrieg "Wiederherstellung der Verfassungsordnung", Wladimir Putin nannte seine Kriegsverbrechen "antiterroristische Operation".»
Der Film beginnt – und endet – mit einer langen Einstellung eines Hochhausbrandes im Zentrum der Stadt und mit Reaktionen der Menschen auf der Strasse: Entsetzen, Trauer, Wut, Verzweiflung. Uns dürfte dies an die Ereignisse von 9/11 und unsere damaligen Reaktionen erinnern. Es folgen Bilder der vom Kreml gesponserten und in Glanz und Gloria zelebrierten Prominenz. Dann begleiten wir die Menschenrechtlerinnen bei der Arbeit. Dann gibt es Aufnahmen der imposanten neuen City, im Kontrast dazu der zerstörten alten Stadt. Irgendwann hört man, wie Ramsan Kadyrow dem Volk die Anbetung des russischen Präsidenten verordnet. Und beiläufig spricht jemand von diesem «Land, das Gott uns gegeben». Dabei erinnern wir uns vielleicht an die exakt gleiche Formulierung, mit der Israel Palästina besetzt.
Mit diesen Aufnahmen der Vielfalt und Verschiedenartigkeit, der Widersprüche und Gegensätze sowie der Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Alltag konfrontiert uns der Regisseur ohne Erklärung und Kommentar. Vieles ist zwar vordergründig klar, hintergründig zum Teil erklärungsbedürftig. Wir sind gefordert, die Schlussfolgerungen zu ziehen und mit unseren Erlebnissen ins Reine zu kommen. Aufbau und Montage sind nicht neutral, indes eher psychologisch als logisch, eher assoziativ als systematisch. Eine solche Form verlangt unser Mittun.
Mit dem Mut der Verzweiflung ...
Menschenrechtlerin, ihr Leben riskierend
«Ich persönlich habe nichts mehr zu verlieren. Ich habe alles verloren. Meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern. Diese Schweine sollen abhauen. Wenn sie es nicht tun, schwöre ich bei Allah, dass ich mit meinen vier Töchtern terroristische Anschläge machen werde. Putin soll hierher kommen! Es soll sich mit mir anlegen!» So tönt es bei einer Demo. Neben aktuellen Aufnahmen enthält der Film historisches Bildmaterial aus einer in der Schweiz gelagerten Sammlung. Neben den Bildern des zerbombten Grozny, dessen Überresten systematisch vertuscht werden, gibt es Bilder der modernen, hochstilisierten, hingeklotzten neuen Stadt. Der Regisseur vermittelt uns jedoch nicht nur Sichtbares, sondern auch Gespräche, ausgesprochen persönliche, ja intime. Man erlebt die Frauen auch mal lustig und herzhaft lachend, erfüllt von Lebenslust, auf dem Hintergrund einer reichen, auch das Wohnen und Essen umfassenden Volkskultur.
Der Film zeigt uns inszenierte Shows für das Regime, aber auch spontane Aktionen dageben. Dabei schaffen die filmenden Frauen Gegenöffentlichkeit. Ihre Pflicht sei es, die verdrängten Erinnerung zu bewahren, bevor der Kult um die Leader des Landes, Putin und Kadyrow, die Vergangenheit für immer auslöscht. Ein Prozess, der vor allem bei den Jungen schon weit fortgeschritten ist. Die alten Orte und Ereignisse werden vergessen, zum Vergessen gebracht. Nicht anders als in Israel, wo seit 1947 systematisch die palästinensischen Orte zerstört und deren Namen ausgelöscht werden. «Für immer mit Russland!», skandieren die Massen, die Mädchen in Uniform und mit Kopftuch, die Männer mit Fahnen und dem Koran in der Hand. «Was nützt uns ein Leben ohne Freiheit und Wahrheit?», heisst es bei jenen Frauen, die sich gegenseitig Mut machen. Dagegen wiederum ist von Älteren zu hören: «Wir haben heute ein wenig Frieden, Grozny war immer ein Ort der Revolution in Kaukasien.»
... zum Elend der Anpassung
Der Islam als Schmieröl der Repression
Für die Jungen sei die Stadt zu klein, sie brauchen eine Big City, nein ein Woodstock. Sie tragen eine diffuse Hoffnung auf eine bessere Zukunft in sich, auch wenn diese auf fragwürdigen religiösen und politischen Dogmen gründet. So sind die Frauen in dieser absurden Religiosität zwar minderwertig, aber dennoch «heilig». «Für eine Frau töten wir zwei Männer, für eine Schwangere drei.» Und eine Schülerin erzählt, dass für sie das Kopftuch wie die Verpackung des Lollipop sei, es halte die «Käfer» fern. Weiter hören wir, dass Liebespaare eineinhalb Meter Abstand einhalten müssen. Der gegen aussen nicht sehr aggressive, eher gemässigte Islam salafistischer Ausrichtung hält die Menschen zusammen, aber auch von jeder Aufklärung fern. Wenn einem dabei Marx in den Sinn kommt, «Religion ist Opium für das Volk», dann liefert einem dieser Film eindrückliche Bilder dafür. Eine der Filmemacherinnen meint, sich selbst Mut einredend, dass es nötig sei, Wärme und Liebe zuzulassen, dass es so einmal eine liebevolle, mitfühlende Gesellschaft gebe, die die Bezeichnung menschlich verdient. Ein Satz, der schmerzt, angesichts der martialischen Aufmärsche der Macho-Männer. «Grozny hört nicht auf zu brennen, ist eine lebendige Stadt, so lebendig wie die Leute hier», tönt es anderswo. «Irgendwie schaffen wir es, zu überleben», meint eine der drei Friedensfrauen, die am Schluss mit dem Laptop die Aufnahmen des brennenden Hochhauses via Skype ihrer Freundin in Belgien schickt. Sie sendet die Bilder in die andere Welt, genau so wie der Film von Nicola Bellucci es in breitem Mass tut.
Regie: Nicola Bellucci, Produktion: 2015, Länge; 102 min, Verleih: Cineworx