Halt auf freier Strecke
«Der Tod ist dem Menschen näher als die Zunge den Zähnen», lese ich soeben in Salim Alafenischs Roman «Die Nacht der Wünsche». Der Tod ist ein Teil des Lebens wie die Geburt und die Ereignisse des Lebenslaufes. Der Tod kommt uns näher, wenn wir die Todesanzeigen in den Zeitungen lesen und unser Geburtsdatum immer häufiger erscheint. Der Filmtitel «Halt auf freier Strecke» suggeriert zudem das Überraschende, Unerwartete, Nichtberechenbare.
Schon vor dem Vorspann zeigt der Film den Besuch von Frank und Simone beim Arzt Dr. Uwe Träger, einem richtigen, keinem schauspielernden Arzt. Dieser sagt, was die Röntgenbildern belegen, dass Frank einen nicht operablen Hirntumor und nur noch wenige Monate zu leben habe. Und der ganze übrige Film schildert – realistisch und einfühlsam –, was bei den beiden und ihren beiden Kindern Lili und Mika geschieht. Er zeigt es in einer Nähe, Dichte und Intensität, dass auch wir uns für die Länge des Films voll in die Rolle von Frank und Simone und der Kinder versetzen und an ihrer Stelle fühlen und denken.- Der Trailer zum Film gibt eine adäquate Einführung.
Der bekannte deutsche Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase denkt uns einiges vor, wenn er die Situation so umschreibt: «Der Arzt hat die Wahrheit gesagt. Die Zeit ist bemessen. Warum ich und warum jetzt? Ein Mann lässt Frau und Kinder zurück, Eltern, Freunde, Nachbarn und die Geliebte von gestern, die Personen in seinem Leben. Tag um Tag ein Stück Abschied. Der Worte werden weniger, länger dauert das Schweigen. Vor dem Fenster wechselt das Jahr die Farben. Sterben ist eine letzte Arbeit. Nicht allein sein, während man allein bleibt, das ist vielleicht gut.» Im Kino wird jeder und jede sich seine eigenen Gedanken machen, andere Gefühle haben und ein individuelles Verhalten planen. Die Reaktionen werden verschieden sein bei Menschen, die einen tiefen Glauben haben oder bloss einen Alibiglauben, bei solchen, die aus Oberflächlichkeit nichts glauben und solchen, die aus Überzeugung Atheisten oder Agnostiker sind.
Hier steht, wie nur sehr selten im Kino, grosse Schauspielkunst im Dienste einer grossen Idee: dem endgültigen Anhalten des menschlichen Lebens, die bei den Zuschauern ankommt, weil sie logisch ist, die berührt, weil sie im Innersten trifft, bei jeder und jedem jedoch Anderes auslöst, immer jedoch etwas Existenzielles. Und aus diesen Gründen ist «Halt auf freier Strecke» ein Meisterwerk der Menschlichkeit.
Was sich der Regisseur und die beiden Hauptdarsteller gedacht, wie sich ihre Vorarbeit und das Drehen gestaltet haben, ist in den Interviews im Anhang enthalten und ergibt eine weitere Dimension der Geschichte.