Hanezu
Kayoko, die von zwei Männern begehrte Frau
Persönliche Vorbemerkung: Bei mir gibt es im Kino zwei Formen von Nicht-Verstehen: Entweder ich verstehe einen Film nicht, weil er wirr ist oder mich kalt lässt, dass ich auch mal das Kino verlasse; oder ich verstehe einen Film nicht, spüre aber, dass es etwas zu verstehen gibt, und schaue ihn mir ein zweites Mal an. «Hanezu» gehört zur zweiten Gruppe. Ich spürte bei der Erstvision, der Film ist mehr als eine gewöhnliche Dreiecksgeschichte, wie mir ein Kollege sagte. Doch was ist dieses Mehr? – Das diesjährige Filmfestival von Locarno ehrt Naomi Kawase mit der Vorführung von vier ihrer Filme.
Tetsuya, der Mann
Versuch eines Zugangs
Gängige Geschichten hat die Japanerin Naomi Kawase nie erzählt. «Hanezu» als gewöhnliche Dreiecksgeschichte zu verstehen, dürfte nicht ihre Absicht gewesen sein. Sie setzt mit ihrem Film bei den Realitäten in ihrer Heimat an. Und da zum Zeitpunkt ihres Drehs in der alten Hauptstadt Fuchiwara in einem aufwändigen Unternehmen nach der Vergangenheit gegraben wird, nimmt sie dies in dokumentarischem Stil auf und baut es in die Geschichte ein. Diese erzählt von zwei Bergen, den männlichen Kagu und Miminashi, die um die Gunst von Unebi, einem weiblichen Berg, kämpfen. Berge sind Götter. Und in diesem Umfeld spielen neben den drei Bergen drei Menschen je ihre Dreieckgeschichte. Kawase switcht mehrmals von einer zur andern. Die Erzählung ist in der Asuka-Region angesiedelt, der Geburtsstätte des heutigen Japan und dem Herkunftsort und noch heute Lebensmittelpunkt der Regisseurin. Literarisch basiert der Plot auf einem Gedicht aus der Sammlung «Man’yôshû»:
«Die Berge Kagu und Miminashi buhlen um / die Liebe von Berg Unebi. / So ist die Liebe seit der Zeit der Götter, / auch heute, in unserer vergänglichen Welt, / wetteifern die Männer um die Frauen.» Die Dreiecksgeschichte der Menschen steht also, eingebettet in der Natur, gleichwertig mit der Dreiecksgeschichte der Götter im Mittelpunkt von «Hanezu», ihrem vierzehnen Film.
Kayoko, die weibliche Hauptperson, ist Textilfärberin und lebt mit dem Werber Tetsuya zusammen, der seine Leidenschaft in der Kochkunst auslebt. Der Dritte im Bunde ist Takumi, der Holzskulpturen herstellt und abgeschieden im Grünen lebt. Man weiss nicht, wie lange das Dreiecksverhältnis schon dauert, doch ein dramatisches Element bringt Bewegung in die Beziehung. Kayoko ist schwanger. Dies eröffnet sie ihrem Liebhaber als Abschiedsgruss nach einer Liebesbegegnung. Die Antwort der drei auf diese Tatsache bleibt offen und vieldeutig: Bringt sich Tetsuya deswegen um? Oder ist sein Selbstmord bloss Kayokos Befürchtung? Lebt ihr Mann weiter? Was macht Takumi? Ist oder war Kayoko schwanger, oder sagt sie es nur? – Vieles bleibt offen, mehrdeutig, bleibt unserer Interpretation überlassen. Warum müssen generell die Filme eindeutigen Schlüssen zugeführt werden, sind doch auch die Schlüsse des Lebens der Menschen offen?
Takumi, der Geliebte
Eine Geschichte, die ins Offene mündet
Die «ménage à trois» wurde auf der Leinwand schon unzählige Male abgehandelt. Doch wenn Naomi Kawase sich des Stoffes annimmt, wird es anders. Die Liebeskonstellation beschränkt sich nicht auf drei Menschen, sondern ist eingebettet in eine höhere Ordnung, die vor uns war und nach uns sein wird: die Ordnung der Natur, der Zeit, der Ahnen, der Götter. Vielleicht erweitert ein solcher Einblick in die Filmgeschichte auch den Einblick in unser Alltagsleben. Weniger in die Psyche, auch nicht die Physis, sondern in eine Metaphysik, die (nach Duden) hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt liegt. Die wunderbaren Bilder der Natur verleihen der Story eine meditative Dimension, vermitteln Empfindungen und Gefühle, welche Worte, die meist bestimmt und eindeutig sind, nicht zu fassen und auszudrücken vermögen. «Dieser Film verleiht der Schönheit der Welt Würde», meint Antoine Duplan in «Le Temps».
Der Mensch ein Teil von Natur
Abtasten, einfangen, festhalten und aufzeichnen
Zwei männliche Berge kämpfen um die Liebe eines weiblichen Berges – in der Urzeit wie heute. Die erzählte Geschichte im Heute erweist sich als deckungsgleich mit der Legende im Damals. Mit ihrem Blick und ihrer Gestaltung, ihrem Antasten, Einfangen, Festhalten und Aufzeichnen beschreibt Kawase die Ereignisse der Natur, die da war, ist, sein wird und für Kontinuität, ja Ewigkeit im Wandel steht. Inszeniert ist dies alles schlicht grandios und grandios schlicht. Schon in den ersten Einstellungen entpuppt sich die Natur als die eigentliche Hauptdarstellerin. Man muss die Menschen regelrecht erspähen zwischen den Pflanzen. Blattgrün beherrscht die Leinwand. Wie sich der Salat am besten und gesündesten zubereiten lasse, wird diskutiert, als würde Naomi Kawase sagen: Die Natur umhüllt uns nicht nur, sie nährt uns auch, die Natur bildet unsern Lebensraum, spendet uns Leben. Wir sind ein Teil von ihr.
Nach dem Dahinter suchend