Henri

Augenblicke des Glückes: Jenseits der Grenze von normal und abnormal ist der Spielfilm «Henri» von Yolande Moreau, ein Hymnus auf das Leben und die Lieben.

henri-titel.jpg

Ungleiche lieben sich gleich und anders.

Henri (Pippo del Bono), ein italienischer Mittfünfziger, eher in sich gekehrt, und seine vitale Frau Rita (Lio), die gute Seele des Hauses, führen ein Provinzrestaurant. Er steht am Herd, sie kümmert sich um die Gäste. Wenn er Zeit hat, trifft er seine Freunde, und sie trinken und reden über Gott und die Welt. So könnte es ewig weitergehen. Doch ein Schicksalsschlag ändert alles. Jetzt muss Henri neben dem Kochen auch noch servieren. Das überfordert ihn, und er beschliesst, sich von Rosette (Candy Ming), einer lebensfreudigen jungen Frau mit einem kaum wahrnehmbaren Handicap, die von Normalität und Liebe träumt, helfen zu lassen. Und damit nimmt das Leben von Henri und Rosette eine Wende, bald schon reisen sie zusammen ans Meer …

Mit Professionalität und Humor stellt die Belgierin Yolande Moreau in ihrem zweiten Film die zwei nicht ganz stromlinienförmigen Figuren ins Licht, wo jede auf ihre Weise verletzlich, doch mit aller Kraft das Leben zu meistern versucht. Aus dieser Verschiedenheit knüpft der Film, ruhig und beharrlich, überraschend und turbulent, eine vielschichtige und berührende Liebesgeschichte, die den banalen Weg des Mitleids und der Sentimentalität gegenüber Andersartigen verlässt. Trotz des lebensmüden und gleichzeitig lebenshungrigen Tanzes von Henri am Schluss, zurück in seinem verlassenen Restaurant, hinterlässt der Film eine leise Ahnung und gleichzeitig starke Überzeugung von dem, was zwischen zwei einsamen Menschen möglich ist: Nähe, Zärtlichkeit, Begegnung, Gemeinschaft und Augenblicke des Glückes.

henri-im-auto.jpg

Gewöhnliche Menschen in einem gewöhnlichen Umfeld

Bilder vom Rande der Gesellschaft …

Moreaus erster Film «Quand la mer monte» spielt im Norden Belgiens, der zweite, «Henri», im Norden Frankreichs, beide sozusagen in einer «Terra incognita». Gezeigt werden Räume, Häuser, Strasse, Plätze, Hinterhöfe und Landschaften, wie sie in keinem Mainstreamfilm vorkommen. In beiden Werken agieren gewöhnliche Männer und Frauen, einfache Menschen aus dem Arbeitermilieu, am Rande der Gesellschaft und machen ihre alltäglichen Vorkehrungen. Und beide Filme lassen uns das stille, scheue Keimen einer Liebe zwischen zwei Randständigen erleben. Cinephile erkennen hier wohl eine Verwandtschaft mit der Welt von Kaurismäki.
Die Regisseurin und Autorin wurde als Schauspielerin und Komödiantin schon dreimal mit dem französischen Filmpreis César ausgezeichnet, zweimal für ihren Regie-Erstling, einmal für die Hauptrolle in «Séraphine» von Martin Provost. Zu «Henri», bei welchem sie Regie geführt und das Drehbuch verfasst hat, meint sie: «J’aime le tragi-comique … J’aime partir des choses graves … Mais l’humour n’est jamais très loin». Mit diesen Sätzen beschreibt sie ihre Art des Filmemachens – verweist aber grundsätzlich auf die Tragikomödie, wie wir sie auch von Grossen der Weltliteratur kennen.

henri-tragikomoedie.jpg

Henri und Rosette: ein Leben als Tragikomödie

… treffen in die Mitte des Herzens.

Die gegenseitige Annäherung von Henri und Rosette, zweimal symbolisiert in einem Angelus-Bild von Jean-François Millet, wird zu einer Hymne an die Liebe und das Leben. Doch jenseits der Idylle in einer realen Welt, letztlich in der Leere. So beschreibt es Henri, vor sich hinsinnierend, und nimmt es das Chanson am Schluss wieder auf: Leben und Liebe in der Leere. Mir erscheint die Geschichte dieser Liebe als Geschichte der Geburt zweier Menschen. Erich Fromm schrieb über die Geburt, was in diesem Film Gestalt wird: «Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört.» Vielleicht liegt hier das Geheimnis und die Schönheit dieses Films.
Offen sein auf das Geheimnis und die Schönheit hin gelingt dem Film, weil er überquillt von Sinn und von Sinnbildern. Diese Redundanz verlangt formal ein elliptisches, Nebensachen weglassendes Vorgehen und gelegentlich gleichzeitig zwei Erzählungen, eine im Ton, eine andere im Bild. Die Nebenfiguren stehen für viele andere Menschen. Das Chanson «Ti amo» von Umberto Tozzi, das die Gäste beim Leichenmahl singen, wird zu einem alles umfassenden Lied auf die Liebe und das Leben. Eindrücklich auch die riesige Abfallhalde mit Flaschen, auf welcher Henri die Nacht nach der Beerdigung verbringt. Oder Nebenhandlungen wie jene mit den Tauben, welche Henri betreut und die am Ende seine Küche in Beschlag nehmen.

henri-im-sand.jpg

Rosette und Henri mit ihrem manchmal ungewöhnlichen Tun

Hymne an die Liebe und das Leben

Zum Weiterdenken zwei französische Kritiken: Yann Tobin in «Positiv»: «Yolande Moreau retrouve le charme des petits "riens" de l'existence. La chronique est ténue, les notations humoristiques ou mélancoliques bien venus, avec quelques envolées discrètement lyriques.» Marie-José Sirach in «L’Humanité»: «De cette histoire ordinaire, Yolande Moreau tire un conte, un hymne à l’amour et à la liberté. On ne peut que saluer son sens de la mise en scène, son parti pris esthétique qui donne au plat pays des allures de western naturaliste et poétique.» Für mich ist «Henri» eines jener seltenen Meisterwerke, das wie ein gewöhnlicher kleiner Film daherkommt, verweilt man aber dabei und sinniert darüber, so öffnet er sich auf die letzten Fragen des Lebens und antwortet mit einer Hymne an die Liebe und das Leben.

Regie: Yolande Moreau        Produktionsjahr: 2013             Länge: 107 min                  Verleih: Filmcoopi