Ilo Ilo

Vom Umgang mit Menschen: Der Film «Ilo Ilo» von Anthony Chen aus Singapur trifft Titel und Idee meiner privaten Website www.der-andere-film.ch exakt, wie auch einige Filme anderer Regisseure.

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Jiale, ein Junge, der Sorgen macht

Die Geschichte handelt im Jahre 1997 auf dem Gipfel der Wirtschaftskrise in Singapur und wird dargestellt von einer Mittelstandsfamilie. Ihr kleiner Sohn Jiale hat kürzlich seinen Grossvater verloren, der mit ihm und seinen Eltern im gleichen Haushalt gelebt hat. Seit dessen Tod ist der Junge in der Schule und zu Hause unausstehlich. Vater und Mutter arbeiten auswärts und engagieren für ihn die Philippina Teresa als Nanny.

Ob des aufmüpfigen Verhaltens ihres Kindes sind die Eltern völlig hilflos. Auch Teresa lehnt er ab, die versucht, ihm offen zu begegnen, obwohl die Familie ihr gegenüber misstrauisch ist. Die Mutter ist Sekretärin in einem Unternehmen, das schwere Zeiten durchmacht, sie hat vor allem Entlassungsschreiben zu verfassen. Der Vater gehört zum unteren Kader einer andern Firma, der es nicht besser geht, er wird Opfer von Sparmassnahmen und erhält die Kündigung. Das Hausmädchen Teresa – vielleicht die Hauptperson des Films – versucht, die Zuneigung von Jiale zu gewinnen, der aggressiv und zutiefst einsam und traurig ist. Sie selbst hat auf den Philippinen eine kleine Tochter zurückgelassen, der sie mit dem Ersparten eine gute Bildung zu ermöglichen hofft. Jiales Mutter ist hochschwanger. Sie erhofft sich von einem Scharlatan einen Ausweg aus ihrer Rundumkrise. Ihr Mann kann ihr nicht eingestehen, dass er Job und Vermögen verloren hat und eine neue Arbeit sucht, die auch bald im Desaster endet.

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Teresa und Jiale in einer besonderen Beziehung

Anthony Chen und sein Werk

Der Regisseur ist 1984 in Singapur geboren, machte sich einen Namen mit acht Kurzfilmen, die an den grossen Festivals gezeigt und ausgezeichnet wurden. Aktuell arbeitet er in London und Singapur. «Ilo Ilo» ist sein erster abendfüllender Film, der 2013 in Cannes als bester Erstlingsfilm ausgezeichnet und vom Publikum mit einer viertelstündigen Standing Ovation belohnt wurde.
Vier Figuren stehen im Mittelpunkt des Werkes, die der Regisseur verständnis- und liebevoll beschreibt. Oft genügt ein Blick oder eine Geste, um aufzuzeigen, was in ihrem Inneren vorgeht. Einfühlsam und humorvoll verknüpft er die alltäglichen Sorgen und Probleme der Mitglieder dieser Familie im Singapur der Jahrhundertwende. «Ich versuche, in meinen Filmen nie über meine Figuren zu urteilen. Ich glaube nicht, dass ein Mensch grundsätzlich gut oder schlecht ist. Mir scheint eher, als würden die Menschen Entscheidungen je nach Situation treffen, in der sie sich befinden, und entsprechend im Moment reagieren. Das macht den Menschen so faszinierend.» Dies sein Menschenbild. Wie er es filmisch umsetzt, kann anfänglich Befremden auslösen, dann aber immer mehr faszinieren und schliesslich begeistern und tief berühren.

Ein «anderer» Film

Festgehalten sei, dass Anthony Chen mit diesem Film etwas Besonderes vollbracht hat. Er hat weder eine Frage gestellt und sie selbst beantwortet, noch eine Frage gestellt und sie uns zum Beantworten aufgetragen. In diesem Sinne ist es ein «anderer» Film. Ähnlich wie «Ilo Ilo» sind Filme von Ozu, Kore-eda, Yamada und einigen anderen radikalen Filmemachern. – Wenn ich hier dennoch zwei Deutungsversuche vorschlage, widerspreche ich mir nicht. Denn nicht der Filmemacher formuliert die Frage, sondern ich angesichts der «Tranche de vie», die er mir mit dem Film vorsetzt.

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Rituale am Grab des Grossvaters

Erster Deutungsansatz

Auf den ersten Deutungsansatz bringt mich meine Auseinandersetzung mit der Pädagogik respektive Antipädagogik. Das Thema Erziehung ist diesem Film doch allgegenwärtig. Ich greife auf einen alten Aufsatz zurück: «Im Jahre 1975 erschien das Buch „Antipädagogik – Studien zur Abschaffung der Erziehung“ von Ekkehard von Braunmühl. In der breiten Öffentlichkeit, aber auch in offiziellen Lehrergremien und Erziehungskreisen, fand das Werk, soweit ich feststellen kann, keine sehr grosse Beachtung. Im Stillen jedoch, und mit einiger Verzögerung, hat diese Streitschrift gegen die Erziehungsideologie dennoch einen Prozess ausgelöst. Man hat begonnen, sich damit auseinanderzusetzen und das antipädagogische Gedankengut weiterzuentwickeln.» Der folgende Diskurs mit Adorno, Buber, Ruth Cohn, Cooper, Illich, Alice Miller und Saner bewegte sich weg von der Erziehung hin zur Beziehung. Diese Polarisierung macht sichtbar, dass im Film die Eltern und die Schule erfolglos erziehen, Teresa hingegen mit Jiale mit spürbarem Erfolg eine Beziehung aufzubauen beginnt.
Vielleicht kann dieser Deutungsansatz den Bildern und Tönen in «Ilo Ilo» Worte verleihen, die wir brauchen, um das fast Unsagbare dieses Filmes auszusprechen.

Zweiter Deutungsversuch

Auf den zweiten Deutungsansatz bringt mich «Der Kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry. Dort findet sich in Kapitel XXI folgendes Gespräch zwischen dem kleinen Prinzen und dem Fuchs:
«Komme und spiel mit mir», schlug ihm der kleine Prinz vor. «Ich bin so traurig …» «Ich kann nicht mit dir spielen», sagte der Fuchs. «Ich bin noch nicht gezähmt!» «Ah, Verzeihung!» sagte der kleine Prinz. Aber nach einiger Überlegung fügte er hinzu: «Was bedeutet das: zähmen?» «Du bist nicht von hier», sagte der Fuchs, «was suchst du?» «Ich suche die Menschen», sagte der kleine Prinz. «Was bedeutet zähmen?» «…ich suche Freunde. Was heiss zähmen?» «Das ist eine in Vergessenheit geratene Sache», sagte der Fuchs. «Es bedeutet: sich vertraut machen.» «Vertraut machen?» «Gewiss», sagte der Fuchs. «Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hundertausend kleinen Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebenso wenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hundertausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt.» «Ich beginne zu verstehen», sagte der kleine Prinz. «Es gibt eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt.»
Vielleicht können diese Dichterworte, die psychologisch wie philosophisch auf Transzendenz verweisen, die Tiefe dieses wunderbaren Filmes beschreiben.

Regie: Anthony Chen
Produktionsjahr: 2013
Länge: 99 min
Verleih:
www.trigon-film.org