Im Spiegel – Vom Leben im Verborgenen

Obdachlose Menschen: Sie wagen im Coiffeursalon von Anna Tschannen den Blick in den Spiegel; wir lernen in Matthias Affolters Dokumentarfilm «Im Spiegel» deren Leben im Verborgenen kennen. – Ab 12. Januar 20210 im Kino
Im Spiegel – Vom Leben im Verborgenen

Anna Tschannen frisiert Markus
In ihrem Coiffeursalon in Basel frisiert Anna Tschannen seit mehr als zehn Jahren obdachlose Frauen und Männer. Mit authentischen Aufnahmen begleitet der Film «Im Spiegel – Vom Leben im Verborgenen» diese in den verborgenen Winkeln der Stadt und macht ihr Ringen um Autonomie und Würde erfahrbar. Beim Versuch, mit ihren Wünschen und Träumen Schritt zu halten, zeigt sich, dass zwischen der Mitte der Gesellschaft und ihren Rändern oft nur ein schmaler Grat liegt. Während die Obdachlosen beim Frisiert-Werden aus ihrem Leben erzählen, bekommen ihre Geschichten allmählich ein neues Gesicht, neue Bedeutungen.

Immer wieder unternehmen es Filmschaffende, das Verborgene in unserer Gesellschaft öffentlich zu machen: Wie Menschen, hier Frauen, ins Verborgene, ins Unsichtbare gestossen werden, schildert beispielsweise der Spielfilm «The Invisible Life of Eurídice Gusmão» von Karim Aïnouz. Wie Menschen, wiederum Frauen, sich aufmachen, aus dem Verborgenen, der Unsichtbarkeit ausbrechen, erzählt der Spielfilm «Les Invisibles» von Louis-Julien Petit. Aktuell wird im Dokumentarfilm «Im Spiegel – Vom Leben im Verborgenen» von Matthias Affolter der Zustand, die Befindlichkeit im Verborgenen im ambulanten Coiffeursalon von Anna Tschannen gezeigt, mit Markus, Aarold, Urs und Lilian – und wir werden eingeladen, ihr Leben wahrzunehmen.
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Lilian liest nachts in der Bibel

Aus einem Interview mit Matthias Affolter – Regisseur und Autor

Wie ist die Idee zum Film «Im Spiegel» entstanden? Anna Tschannen ist auf mich zugekommen. Sie hatte den Wunsch, das, was sie während der letzten zwölf Jahre beim Haareschneiden erlebt und gehört hat, weiterzuerzählen. Ich fand die Situation spannend, in der sich Menschen vor dem Spiegel auf eine Veränderung einlassen. Durch die Annäherungen und Berührungen beim Haareschneiden finden Begegnungen statt, die auch Einfluss darauf haben können, wie sich Personen selber wahrnehmen. Diese vielschichtige Auseinandersetzung auf dem Coiffeurstuhl sollte der Ausgangspunkt sein, um in verborgene Lebensrealitäten und Geschichten am Rand der Gesellschaft einzutauchen.

Was hat sie am Thema Armut interessiert? Mich interessierte der andere Blick. Menschen, die aus den Strukturen des Systems gefallen sind, blicken von aussen auf die Gesellschaft, während wir oft aus einer inneren Distanz auf sie blicken. Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, und die Scham, in einer solchen Situation zu sein, prägt das Leben von armutsbetroffenen Menschen oft mehr als der materielle Mangel. Mit diesem Aspekt der Armut wollte ich mich auseinandersetzen: Wie behält man seine Würde und Selbstachtung, wenn man im System keine Funktion mehr hat und einem das Gefühl vermittelt wird, man sei nutzlos oder gar ein Ärgernis?


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Urs, der «Surprise»-Verkäufer

Ein ungewohnter Zugang, der die Augen öffnen kann

Realisiert wurde der stille, doch eindringliche, der unaufgeregte, doch spannende Dokumentarfilm von Matthias Affolter als Regisseur und Drehbuchautor und Anna Tschannen als Co-Drehbuchautorin und Protagonistin sowie Ramòn Giger an der Kamera, Falk Peplinski mit der Montag und Janiv Oron mit seiner Musik.

Initiantin war Anna Tschannen, die seit zwölf Jahren Obdachlosen in Basel Haare schneidet, anfänglich gratis, heute von einer Stiftung unterstützt und mit fünf Franken der Klienten bezahlt. Bei ihrer Arbeit kommt sie den Männern und Frauen körperlich und seelisch nahe, die sich spontan oder zögernd öffnen und aus ihrem Leben erzählen, ihrer Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, über Missbrauch, Lieblosigkeit, Jobverlust, Scheidungen, Gewissensbisse, Verzweiflung, Einsamkeit, Scham, Krankheit und Liebe.

Dies alles wird erlebbar durch die Persönlichkeit von Anna und mithilfe ihres Spiegels, vor dem die Obdachlosen sitzen und sie steht. Der Spiegel als banalen Ding, doch gleichzeitig als Symbol, wie wir es aus Redensarten wie «Jemandem einen Spiegel vorhalten» kennen.

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Aarold, der auf seinen Sohn wartet

Aus einem Interview mit Anna Tschannen – Co-Autorin, Protagonistin

Was sind das für Menschen, die zu Ihnen auf den Coiffeurstuhl kommen? Ins Tageshaus für Obdachlose kommen Menschen, die aus den gesellschaftlichen Strukturen gefallen sind. Nicht alle leben auf der Strasse. Manche kommen vorübergehend bei Freunden unter, leben in Untermiete oder in einem Heim. Jeder Mensch und jede Geschichte ist anders. Oft steht am Anfang der Abwärtsspirale eine Lebenskrise, eine Trennung oder ein Unfall. Wenn dann kein persönliches Umfeld vorhanden ist, das sie auffängt, kann es schnell gehen, bis man den gesellschaftlichen Anschluss verloren hat. Viele tragen auch ein unverarbeitetes traumatisches Erlebnis mit sich, das sie lähmt und immer wieder zurückwirft. Der Obdachlosigkeit geht häufig eine innere Heimatlosigkeit voraus. Der englische Ausdruck «homeless» trifft es am besten, es sind Menschen, die kein Zuhause haben.

Welche Erfahrungen haben Sie in den über zehn Jahren geprägt? Es wurde mir bewusst, wie schnell man fallen kann und wie viel es braucht, vom Rand wieder in die Mitte zu finden. Für manche bedeutet es eine grosse Überwindung, sich auf meinen Coiffeurstuhl zu trauen und sich auf eine Veränderung einzulassen. In den Momenten, in denen dieses Gefühl der Scham verschwindet, findet ein Austausch statt, der mich berührt und beschäftigt. Der eigene Kampf. Die Demut. Der Humor. Das unmittelbare Leben. Diese Momente haben mich oft inspiriert, und so habe ich angefangen, Sätze aufzuschreiben und die Verwandlung mit Vorher- /Nachher-Bildern mit einer Fotokamera festzuhalten.


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Anna schreibt auf, was sie erlebt

Intention der Filmschaffenden


Menschen, die aus den Strukturen des Systems gefallen sind, blicken von aussen auf die Gesellschaft. Ihre Erfahrungen erzählen viel über unsere blinden Flecken und verdrängten Ängste. Ausgeschlossen von den Verheissungen der Leistungsgesellschaft sind sie gezwungen, jenseits der Leitbilder von Besitz und Erfolg nach Halt und Orientierung zu suchen. Wenn es ihnen gelingt, ihren Geschichten einen Sinn und eine Bedeutung zu geben, werden sie zu Experten für Lebenswerte abseits der gängigen Ideen. Der Film zeigt Menschen auf dem schmalen Grat zwischen Selbstaufgabe und Selbstachtung und fragt: Wofür werden wir geschätzt? Für das, was wir leisten und besitzen, oder für das, was wir sind?

Regie: Matthias Affolter; Produktion: 2019, Länge: 83 min, Verleih: Royal Film