In Zeiten des abnehmenden Lichts
Der Tisch aus der Nazizeit und die DDR: beide brechen zusammen
Ostberlin, 1. Oktober 1989. Wilhelm Powileit (Bruno Ganz), hochdekoriertes SED-Parteimitglied und Patriarch der Familie, wird 90 Jahre alt. Der Widerstandkämpfer aus Überzeugung hat die DDR mit aufgebaut, während der Wirren des Zweiten Weltkriegs hat es ihn nach Mexiko verschlagen. Am gleichen Tag wie er feiert die DDR ihren 40. und letzten Geburtstag. Wilhelm und seine Frau Charlotte (Hildegard Schmahl), einander in inniger Verbitterung verbunden, rüsten sich für den Ehrentag. Nachbarn, Genossen und singende Pioniere betreten nach und nach die alte, verwitterte Villa, um Blumen zu überreichen, Wilhelm einen weiteren Orden zu verleihen und dem Helden zu gratulieren, der mit herausgestelltem Unwillen in seinem Sessel sitzt und sich mit dem sozialistischen Hang zu umständlichen Reden und diversen Alkoholika feiern lässt. Auch die Familie der beiden ist dabei. Nur der Enkel Sascha taucht nicht auf, ist vor wenigen Tagen in den Westen abgehauen. Die Nachricht platzt in der Gesellschaft wie eine Bombe. Je länger das Fest dauert, umso mehr brechen sich Geheimnisse ihre Bahn. Die Veränderung ist nicht mehr aufzuhalten. Es ist die Zeit des abnehmenden Lichts, des leisen Untergangs eines bombastischen politischen Glaubensgebäudes.
Der Film basiert auf dem 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet Werk «In Zeiten des abnehmenden Lichts» des 1954 in der Sowjetunion geborenen deutschen Schriftstellers Eugen Ruge: der gefeierte Roman über eine Familie in vier Generationen und die letzten Tage der Deutschen Demokratischen Republik. Das Buch, das ein Jahrhundert umspannt, liefert die Vorlage für den Film, der es als Kammerspiel auf einen einzigen Tag verdichtet. Matti Geschonneck, 1952 in Potsdam geboren, führt Regie, fussend auf dem Drehbuch des 1931 in Berlin geborenen Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase: mit Freiheit und Präzision, sensibler Komik und anrührender Tragik. In den Hauptrollen brillieren neben Bruno Ganz und Hildegard Schmahl weitere hochgradige Darstellerinnen und Darsteller.
Nachbarn und Genossen erscheinen im Minutentankt zum Gratulieren
Der Untergang einer Lebenswelt
Der Film spielt, abgesehen von Anfang und Schluss, fast ausschliesslich in der Villa, in kammerspielhafter, intimer Enge. Hier kreuzen sich vielsagende Blicke, man ahnt, in welchem Ausmass der Staat und die Familie zerrüttet sind, wer mit wem eine Affäre hat, wer unter den Freunden als systemtreu gilt, wer nicht. Alle wissen oder ahnen, dass der ganze marode Staat dem Untergang geweiht ist, fast jeder ist zur Flucht aus der Republik bereit. Doch noch ein letztes Mal führt man hier die DDR als Melodrama auf. Hier wird klar, dass der Sozialismus aus Mangel an neuen Ideen wenig Neues erschaffen, aber viel Altes konserviert hat.
Bruno Ganz spielt den Alten grossartig. Mit langen, leisen Einstellungen wird die Eingefahrenheit des Greises gezeigt, die eigenwillige Umsicht, mit der er die Orden und Zeitungsartikel verschmäht, wie er die Tabletten in Dosen und Schubladen und kleine Verstecke einsortiert. Man bewundert, wie der im Alter so eigentümliche und anrührende Wechsel aus seniler Dämmerung und energischem Aufbäumen zelebriert. Die wohl dramatischste Szene findet nach der Verleihung des Ordens statt. Wilhelm Powileit möchte der Geburtstagsgesellschaft noch etwas sagen, skizziert in wenigen Sätzen sein ganzes Leben und endet mit der Einsicht: «Wir waren nicht vorbereitet.» Und fügt bitter hinzu: «So wie man jetzt wieder nicht vorbereitet ist.»
Wilhelm Powileit, grossartig, weil zwiespältig, verkörpert von Bruno Ganz
Mehr als ein Historienfilm: das Gleichnis des Untergehens
Was an Ruges Roman vielleicht literarisch genannt werden kann, hat die Filmadaption ihm ausgetrieben. Zurück bleibt ein Kammer- und ein Jammerspiel. «Haben wir alles verdorben?», fragt der Film am Schluss. Nicht alles, aber vieles, sein Fazit. Wolfgang Kohlhaase hat sich mit diesem Drehbuch als 86-jähriger Zeitzeuge noch einmal als grosser Erzähler des deutschen Kinos erwiesen. Die Handlung, die bei Ruge in Vor-und Rückblenden durch die Geschichte zweier Diktaturen und über Schauplätze von Mexiko bis Sibirien mäandert, komprimiert er, abgesehen von zwei Exkursen, auf einen einzigen Tag und einen einzigen Ort. «Es gibt nicht so viele Filme, die den Osten mit seiner Steifheit, Verträumtheit, seinen Hoffnungen, seiner Sauffreude und leisem Humor glaubwürdig abgebildet haben. Dieser gehört definitiv dazu,» schreibt «Die Zeit». Der Film ist reich an Bezügen, die uns Schweizern vielleicht zum Teil etwas fremd sind.
Der Film, mit einer grossartigen Kameraarbeit (Hannes Hubach) visualisiert, enthält Momente, in denen das zwischenmenschliche Spiel eine historische Dimension gewinnt. «In Zeiten des abnehmenden Lichts» ist ein ernster, doch kein bitterer, oft sogar ein komischer Film. Etwa dort, wo der Brigadier vom Molkereikombinat das ökonomische Konzept der DDR in einem lehrbuchreifen Satz zusammenfasst: «Das Ziel ist Ostkäse, der wie Westkäse schmeckt.» Am Ende des Films geht der Blick hinaus ins Offene, im fernen Sibirien treffen sich die Überbleibsel der Familie zu einer Beerdigung. Der Herbst ist vergangen, die Zeit des abnehmenden Lichtes ist vorbei. «Haben wir alles verdorben?», fragt der Erzähler. «In diesem Jahrhundert wird es keine grossen Gedanken mehr geben», meint der Vater des in den Westen geflohenen Sohnes, resigniert – vielleicht schon prophetisch.
Eben war Bruno Ganz in «The Party» von Sally Potter in den Kinos zu sehen, in einer Party, die geradewegs zur Implosion führt, unterhaltsam und brillant gespielt ist, doch ohne tieferen Sinn endet; und schon begegnen wir dem Protagonisten in der Hauptrolle von «In Zeiten des abnehmenden Lichts», in der Party des Untergangs einer Glaubens- und Lebenswelt, der DDR, diesmal mit einer historischen, politischen und existenziellen Botschaft. Zwei Zeilen des Gedichtes «Epilog 1949» von Gottfried Benn verweisen mich darauf, dass dieser Film mehr ist als bloss ein grosser Historienfilm. Denn er trifft den Menschen in seiner Existenz. Benn, ein anderer Deuter des Deutschlands jener Zeit, schreibt, verdichtet in sechs Worten: «Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn.»
Aus einem Gespräch mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase und dem Regisseur Matti Geschonneck. PDF