Incendies

Eine libanesische Tragödie

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Mit dem Satz «Die Kindheit ist ein Messer in der Kehle» kommt die Geschichte in Gang und wird die Tonart bestimmt dieses komplexen Spielfilms des Kanadiers Denis Villeneuve, nach einem Theaterstück des im Libanon geborenen Wajdi Mouawad.

Im Film wird der Satz von einem Notar gelesen, als er den Zwillingen Jeanne und Simon das Testament ihrer Mutter Nawal eröffnet. Diese ist vor langer Zeit aus dem Nahen Osten nach Québec emigriert und gibt den Kindern posthum ein Rätsel auf. Sie will mit dem Gesicht nach unten, namenlos und ohne Sarg beerdigt werden, und einen Grabstein dürfen sie erst setzen, wenn zwei versiegelte Briefe an die Adressaten ausgehändigt sind: Jeanne soll das Couvert dem Vater überbringen, Simon seines dem gemeinsamen Bruder. Die beiden sind fassungslos, denn von einem Bruder hören sie zum ersten Mal und den Vater hat die Mutter als tot erklärt. Der Sohn verwünscht die Mutter und weigert sich, für sie den Postboten zu spielen, die Tochter macht sich auf die Reise in die Heimat ihrer Mutter. In dieser schmerzlichen Suche nach den Wurzeln der Tragödie erhält die Mutter die Rolle der Erleidenden, im Hervorbringen des Elends, der Gewalt, des Leids sind – wie fast immer in der Geschichte – die Männer die Urheber, die Auslösenden, die Unmenschen.

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Die Reise beginnt und führt in mysteriöse Landschaften, in eine verschlüsselte, verminte Vergangenheit, mit dem Ziel der Suche nach der persönlichen verborgenen und verdrängten Identität, aber auch der Identität der Bevölkerung eines Landes im Nahen Osten. Dieses wird nicht deutlich bezeichnet, erhält jedoch durch die heutigen zerstörten Häuser und Städte eine bedrückende Aktualität und schockierende Authentizität. Es dürfte sich um den Libanon handeln, hat jedoch auch für Palästina Gültigkeit, wo anstelle des Konflikts zwischen Christen und Muslimen jener zwischen Juden und Muslimen immer neue Leiden hervorbringt. Um die Allgemeingültigkeit zu betonen, wechselt der Film die Orte und die Zeiten: einmal sind wir mit Jeanne in der Gegenwart, dann mit Nawal als Mutter in der Vergangenheit und schliesslich mit ihr als Kind sozusagen in der Vorvergangenheit.

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Diese Parallelführung der Zeitebenen leistet der Regisseur höchst gekonnt, fordert damit jedoch eigenes Mittun heraus. Doch gerade dieses zwingt, den eigenen Film zu Ende zu erleben, zu leben. Diese Implosion des Privaten ins Politische oder des Politischen ins Private stösst zu Dimensionen vor, in denen der unerklärliche Hass und die unzerbrechliche Liebe durch Empathie und Sympathie zusammen geführt werden zu einem umfassenden Fresko der «conditio humana», in welcher «Verbrennungen» zerstören und gleichzeitig Neues erschaffen.

Mit der erzählerischen und visuellen Sprengkraft einer klassischen Tragödie zeigt Villeneuve den gnadenlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, aber auch der Lebenskraft, die jene überwindet im Miteinander. «Incendies» ist ein spannender, höchst dramatischer Film, der sich gleichzeitig in vieldeutiger Lyrik ergeht und streckenweise gar surreale Züge annimmt. Von einem «gnadenlosem Trost» spricht der Theaterautor in der Einleitung zum Stück, müssen wir uns abfinden. Doch der Schluss lässt erahnen, dass letztlich kein Friede möglich ist ohne diese absurde Hoffnung – weder im Nahen Osten noch anderswo auf der Erde.