Inshallah a Boy

Die Männer entscheiden: Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes ist Nawal mit Tochter Noura allein und muss um ihre Existenz kämpfen. In Jordanien, wo Männer von Gesetzes wegen bevorteilt sind, wäre die Situation mit einem Sohn anders. Mit Mouna Hawa in der Hauptrolle liefert Amjad Al Rasheed in «Inshallah a Boy» ein starkes Debüt über den Kampf einer mutigen Frau gegen das allmächtige Patriarchat. Ab 6. Juni im Kino
Inshallah a Boy

Nawal und Noura

Panorama auf einen Stadtteil Ammans. Über einen langsamen Schwenk dringt die Kamera in die Strassen des Quartiers und bleibt auf dem Bild eines einsam trocknenden BHs an einer Wäscheleine stehen. Nawal versucht, ihn mit einem langen Stab von der Leine vor ihrem Fenster zu fischen, doch er fällt auf den darunterliegenden Balkon. Sie lehnt sich hinaus und duckt sich blitzschnell weg, als der Nachbar unten auf die Terrasse tritt. Ein BH ist Grund genug, sich zu schämen. Die erste Szene nimmt symbolisch brillant vorweg, worum es in dieser Geschichte geht. Eine Frau, auf sich allein gestellt, soll sich unsichtbar machen und die Männer walten lassen. Doch zwischen diesem Anfang und der letzten Einstellung liegen Welten. Am Ende sitzt Nawal am Steuer eines Pick-ups, den sie in mehreren Anläufen auszuparken versucht. Was auf den ersten Blick unbeholfen wirkt, ist für sie ein Triumph, eine Trophäe am Ende einer langen Kette von gemeisterten Hürden. Dazwischen liegt ein Spiessrutenlauf durch ein gesellschaftliches Labyrinth voller patriarchaler Irrwege.

Dass ein 38 Jahre junger Jordanier in seinem ersten Spielfilm die Situation der Frauen in seinem Land einfühlend beschreibt, exemplarisch analysiert und die patriarchal geprägte Heimat scharf kritisiert, lässt aufhorchen und Hoffnung schöpfen. Auf Tatsachen beruhend und von Erlebnissen einer Verwandten inspiriert, inszeniert Amjad Al Rasheed ein dichtes und packendes Sozialdrama über die ungerechte Rechtsprechung und fehlende Gleichberechtigung in seinem Land. Der Gang zu Richtern und Ärztinnen, Szenen in Treppenhäusern und im Verkehr, der Blick in verschiedene Gesellschaftsschichten sowie unerwartete Wendungen charakterisieren den ersten Langspielfilm des Regisseurs. Er besticht durch die authentische Verankerung im Alltag und im Lokalen, die der Kameramann Kanmé Onoyama eindrücklich festhält, die mit dem Stadtlärm vermischte Musik von Jerry Lane und Andrew Lancester, durch das präzise Drehbuch und die Konzentration auf die weibliche Perspektive.

In meinem Text folge ich weitgehend einer Besprechung von Brigitte Siegrist von trigon-film.

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Mutter und Tochter

Mouna Hawa dominiert in der Rolle von Nawal praktisch jede Szene. Nach dem plötzlichen Ableben des Ehemannes muss die junge Witwe alle Hebel in Bewegung setzen, sich auf den Goodwill von Verbündeten verlassen und eine gute Portion Gerissenheit an den Tag legen, um den sozialen und finanziellen Ruin abzuwehren. «Eine Frau verliert mit dem Tod ihres Mannes ihren Geliebten, ihren Partner, ihr ganzes Leben», stellt eine Verwandte bei der Totenwache fest. Genau darauf ist die gesellschaftliche Struktur aber ausgerichtet. Kaum sind die ersten Tränen getrocknet, beginnt ein nervenaufreibendes Seilziehen um die bescheidene Hinterlassenschaft des Verstorbenen: einen klapprigen Pick-up und eine Wohnung, die noch nicht einmal abgezahlt ist. Da Nawal keinen Sohn geboren hat, steht ihr nur die Hälfte des verbliebenen Hab und Guts zu, der Rest geht an die Sippschaft des Ehemanns. Das bedeutet, dass sie entweder das Auto oder die Wohnung verkaufen muss, um die Familie auszuzahlen. Doch wo soll sie dann wohnen? Auf den Pick-up hat sie sich eingeschworen, den gibt sie nie her, auch wenn sie ihn nicht fahren kann. Absurd? Nein, überlebenswichtig.

Die patrilineare Erblinie

Hinter der freundlichen Fassade des Schwagers kommt zunehmend eine hässliche Fratze zum Vorschein. Er taucht öfter auf, holt die Nichte ungefragt von der Schule ab und lässt Nawal bald vor Gericht antraben. Sie hat keine rechtliche Handhabe. Doch wie ist das möglich in einem Land, das vor kurzer Zeit die Gleichberechtigung in einer Verfassungsänderung festgehalten hat und wo mit Königin Rania eine Frau an höchster Stelle steht? Die Mühlen des Gesetzes und des sozialen Bewusstseins malen hier extrem langsam. Laut Verfassung haben Mann und Frau die gleichen Rechte, doch Ehe- und Erbrecht sind weiter im «Status Code» geregelt, der auf altem islamischem Recht beruht. Der Anteil der Frau an der Erbschaft ist halb so gross wie jener der Männer. Eine Schwester erhält die Hälfte des Betrags, der einem Bruder zusteht. Ein Ehemann erhält den doppelten Betrag aus dem Nachlass seiner verstorbenen Frau wie sie vom verstorbenen Ehemann. Doch selbst dieses unfaire Recht wird in der Praxis vielen verweigert. Frauen werden unter Druck gesetzt, auf ihren Anteil zu verzichten. Die archaischen Strukturen der Vergangenheit, die weiter herrschen, fussen auf Stammesnetzwerken und altertümlichen Vorstellungen über die Ehe.

Das dominante systemische Männergeflecht verknotet Al Rasheed in «Inshallah a Boy» geschickt mit dem subtilen Netzwerk der Frauen und zeigt auf: Während es ihnen gelingt, einige schmerzende Knoten zu lockern, bleiben sie in anderen heillos verstrickt. Wie tief die Diskriminierung verankert ist, zeigt sich am Schicksal der jungen Lauren, der Tochter einer wohlhabenden christlichen Familie, Nawals Arbeitgebern. Sie hat beste Bildung und gewisse Freiheiten genossen, sieht sich dennoch zur Heirat genötigt, wenn sie ihre Sexualität ausleben möchte. Dies bedeutet automatisch, Kinder zu kriegen und des Ehemanns Liebhaberinnen zu tolerieren. «Wir stecken alle in derselben Scheisse», meint sie zu Nawal und zielt damit auf den religiösen Kern der Unmenschlichkeit ab: das Haram, das, was nach der Scharia verboten ist und die Frauen im Islam unterdrückt. Weiter erreicht Nawal, die ob der widrigen Umstände am Rande der Erschöpfung ist, eine Hiobsbotschaft nach der andern. Doch sie versteht es, die Rollenverhältnisse mit einem Trick für sich zu nutzen, um einen gerichtlichen Aufschub zu erwirken, der ihr etwas Luft verschafft. Als sie endlich am Steuer des Pick-ups sitzt, ist das nicht nur ein persönlicher Triumph, sondern vor allem eine starke Botschaft für ihre Tochter und alle Nouras dieser Welt: Inshallah a Girl!

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Auf dem Weg in die Zukunft

Nachbemerkung

«Es ist eine Geschichte rund um Überleben, Selbstbestimmung und Hoffnung», meint Amjad Al Rasheed, «mit dem Film möchte ich die Unterdrückung durch eine patriarchalische Gesellschaft anprangern und das Publikum zum Nachdenken anregen». In dieser Antwort steckt in meinen Augen eine klare und gültige Antwort auf die gelegentlich gestellte Frage, weshalb Filme aus Latein- und Mittelamerika, aus Afrika, dem arabischen Raum, dem östlichen Asien, Indien und Zentralasien, Russland und dem Balkan auch bei uns gezeigt und angeschaut werden sollen. Ausgehend von den Erfahrungen, die wohl jede Frau und jeder Mann beim Betrachten dieser Filme machen kann, gibt es eine umfassende und überzeugende Antwort im grossen Buch über «Filmische Reisen durch Lateinamerika, Afrika und Asien» von Walter Ruggle mit dem Titel, der wohl alles sagt, was zu sagen ist: «Welt in Sicht». (erhältlich bei trigon-film und im Buchhandel.)

Regie: Amjad Al Rasheed, Produktion: 2023, Länge: 113 min, Verleih: trigon-film