Ixcanul - Der Vulkan

María Sehnsucht: Der guatemaltekische Regisseur Jayro Bustamante schuf mit «Ixcanul» das Denkmal einer Mutter, welche den Ausbruch aus der Tradition versucht. Grossartig wie eine griechische Tragödie.
Ixcanul - Der Vulkan

María, mit dem Blick nach innen und der Sehnsucht nach aussen

María, eine 17-jährige Maya-Frau, lebt mit ihren Eltern am Fusse eines aktiven Vulkans im Hochland Guatemalas. Die Familie ist arm, ein kleiner Bauernhof und die Arbeit auf der Kaffeeplantage sind alles, was sie haben. Regelmässig opfern sie dem Vulkan und halten ihre traditionellen Rituale ab, für eine gute Ernte und, neu, für das Glück der Tochter. Sie ist dem Vorarbeiter Ignacio zur Frau versprochen. Eine gute Partie, denn dieser hat nicht nur ein gutes Einkommen, er spricht im Gegensatz zu ihnen auch spanisch.

María scheint sich in diese Familienpläne einzufügen, hegt innerlich aber andere Wünsche. Sie möchte die Welt hinter dem Vulkan kennenlernen. Deshalb ist sie fasziniert vom Kaffeepflücker Pepe, der in die USA auswandern will. Dieser ist bereit, María mitzunehmen, sofern sie «nett» zu ihm ist. Bald nach ihrem ersten Zusammensein ist sie schwanger, und für die Familie steht ihre Existenz auf dem Spiel. Was wird geschehen, wenn Ignacio erfährt, dass sie ihn noch vor der Hochzeit betrogen hat?

Pepe aber macht sich alleine aus dem Staub. María kann wenigstens auf die Unterstützung ihrer Mutter zählen, welche mit Ritualen die Götter beschwört. Diese sollen zuerst das Kind «vertreiben», als dies nicht gelingt, es willkommen heissen. Fortan sollen die besonderen Kräfte der Schwangeren genutzt werden, so um die Schlangen zu vertreiben, die die Plantage bedrohen. Als María dabei gebissen wird, kommt sie notfallmässig ins Spital, wo sie entbunden wird.

Hier nimmt der Film eine überraschende Wende und legt den gewaltigen Riss frei, der durch die guatemaltekische Gesellschaft geht. Guatemala ist weltweit das Land, das proportional am meisten Kinder zur Adoption freigibt. Dieses Geschäft ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Es verstösst gegen internationale und nationale Gesetze und hat seinen Ursprung im Horror des Krieges, nährt sich von der Armut der Bevölkerung und fusst auf der Habgier der Mächtigen, ist geheim und verschwiegen, lukrativ und effizient über perfekt organisierte Netzwerke. Die UNO meldete 400 Minderjährige pro Jahr, die unter völliger Straffreiheit gestohlen wurden. Auf diesem weiten und dunklen Feld tummeln sich viele Mitschuldige: Notare, Richter, Ärzte, Direktoren von Waisenhäuser und so weiter.

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María und Pepe, mit dem sie ausbrechen möchte

Marías Empfängnis vor dem Vulkan, in dem es brodelt

Der Filmtitel «Ixcanul» ist ein Wort aus dem Cakchiquel, der Landessprache der Ureinwohner. Es bedeutet soviel wie die Kraft, die im Innern des Berges brodelt und hinaus will, hier wohl stellvertretend für die ungestillte Sehnsucht der Protagonistin María. In der ersten Sequenz steht sie in einer langen Frontalaufnahm vor uns und wird von ihrer Mutter schön eingekleidet. Die zweite Sequenz zeigt, wie ein Schwein gedeckt werden soll. Nach deren anfänglichem sexuellem Desinteresse werden Eber und Sau mit Rum abgefüllt, bis es klappt und er nach vollbrachter Tat geschlachtet wird. Gegen Ende des Films zeigt der Film María die neugeborenen Ferkel streicheln. Wie eine Folie steht diese Handlung hinter Marías Geschichte. Denn sie befindet sich in einer ähnlichen Situation. Ungefragt und widerwillig wird sie dem Sohn des Vorgesetzten ihres Vaters, dem Besitzer ihres Hauses, zur Heirat versprochen, wodurch die Familie finanziell gesichert würde. Sie aber hat ein anderes Lebensziel, wofür sie sich Pepe in der Hoffnung hingibt, mit ihm hinter den Vulkan und hinaus in die weite Welt zu kommen. Doch dieser lässt die Schwangere sitzen. Dem mythischen Glauben folgend, soll sie als werdende Mutter die Schlangen vertreiben. Dabei wird sie gebissen und kommt ins Spital, wo sie gerettet, ihr Kind aber als tot erklärt, in Wahrheit aber verkauft wird. Der Schluss des Films gleicht dem Anfang: María wird einem Witwer zur Frau gegeben und dafür wieder schön eingekleidet.

Erzählt wird die Geschichte in ruhigen, meist warmen, bedeutungsvollen Bildern, mit alltäglichen und dennoch zeitlosen Handlungen, mit sexuellen Szenen von ungewohnter Natürlichkeit, in einer Montage, die Zeit zum Hinterfragen lässt. Entstanden ist das grossartige Denkmal einer jungen Frau in Guatemala, gleichzeitig von unzähligen anderen Frauen irgendwo auf der Welt, die Tragödie einer Mutter dort, gleichzeitig von unzähligen anderen Müttern hier. «Ixcanul» ist ein Werk von hoher Intensität und Symbolgehalt, womit es über die Sozialkritik hinausgeht. Ein Meisterwerk, authentisch und welthaltig!

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María und ihre Mutter bei der täglichen Arbeit

Jayro Bustamante zu seinem Film

«Ich verbrachte meine Kindheit im guatemaltekischen Hochland, wo das Maya-Volk lebt und Vulkane die Landschaft dominieren. Als Kind begleitete ich meine Mutter auf medizinischen Kampagnen durch das Hochland. Wir besuchten viele Maya-Familien, die abgeschieden lebten und aufgrund der Geschichte ihres Volkes grosses Misstrauen hegten gegenüber den Weissen, die eigentlich Mestizen sind. Eine der vielen Aufgaben bestand darin, die Mütter zu überzeugen, dass sie ihre Kinder impfen lassen sollten. Es war ein schwieriges Unterfangen, zwischen der indigenen Bevölkerung und den Mestizen eine Beziehung aufzubauen. Als wir einige Jahre später davon erfuhren, dass Angestellte des Gesundheitswesens in den Raub von Maya-Kindern involviert waren, waren wir entsetzt. Das war der Ausgangspunkt dieser Geschichte und ist auch ihr Ziel.

Trotz des dringlichen und gesellschaftsrelevanten Themas lag mein Interesse vor allem bei den Müttern, den ersten Opfern dieser Verirrung. Aus der Sicht der Mutter zu erzählen und ihre von der Modernität abgeschnittene Welt zu zeigen, ermöglichte mir, auch von der indigenen Frau zu sprechen, ihrem Leben, ihrem Volk, ihrer Position in Bezug auf die westliche Kultur, die immer die dominante ist.

Meine Arbeit begann inmitten in der Maya-Gemeinschaft mit Workshops, in denen sie ihre Probleme und ihre soziale Benachteiligung zum Ausdruck bringen konnten. Auf der Basis dieser wahren Erzählungen, Begegnungen und einer ganz bestimmten Aussage schrieb ich das Drehbuch. Während dieses Prozesses führte ich die Teilnehmenden auch in die Schauspielerei ein, um mit ihnen drehen zu können. Es war eine aufschlussreiche und bereichernde Erfahrung, die mich für den Rest meines Lebens geprägt hat.»

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María wird einem Witwer zur Frau gegeben

Regie: Jayro Bustamante, Produktion: 2015, Länge: 91 min, Verleih: trigon-film