Joschka Herr Fischer

Die neue deutsche Geschichte an einer Person demonstriert

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Der Regisseur Pepe Danquart hat mit diesem Film ein ehrliches, detailreiches Porträt geschaffen und dafür einen klugen und simplen Ansatz gefunden: Er geht mit Fischer in eine Halle, in der auf Monitoren Filme über ihn aus allen Epochen seines Lebens gezeigt werden, zu welchen er dann befragt wird und Stellung beziehen muss. Indem Fischer sein Leben reflektiert, reflektiert er die politische Entwicklung jener Zeit. Es wurde eine «Zeitreise durch 60 Jahre Deutschland» (Pepe Danquart).

Joschka Fischer war 68er-Aktivist, Stadtguerillero, Taxifahrer, Sponti wurde hessischer Umweltminister in Turnschuhen und deutscher Aussenminister im Anzug. Das bewegte Leben von Joseph «Jochka» Fischer dient dem Regisseur als roten Faden für die deutsche Nachkriegsgeschichte: von den «verlorenen 50er-Jahren», den «wilden Tagen» der APO, der «bleiernen Zeit» des RAF-Terrors, den Anfängen der Anti-AKW-Bewegung, den Gründungsjahren der Grünen, dem Fall der Mauer und der ersten rot-grünen Bundesregierung. Der Film fliegt wie eine Zeitmaschine durch die deutsche Geschichte, und Fischer reist darin als Reisender mit, der manchmal selbst kaum fassen kann, was in der Epoche, die ihn geprägt und die er geprägt hat, alles geschehen ist.

Ein Mensch, der sich entwickelt und seine Meinung ändert

«Joschka und Herr Fischer» ist weit mehr als eine simple Biographie. Kurzweilig und aufschlussreich mit teils noch nie gezeigten, beeindruckenden Dokumentarbildern, liefert der Oscar-prämierte Danquart einen Querschnitt durch die neuere deutsche Geschichte. Er schildert die Entwicklung eines Landes, das viele Jahre brauchte, um Demokratie zu lernen und sich von den Schatten der Vergangenheit zu lösen. Mit markanten Szenen seiner privaten, aber auch der öffentlichen Geschichte konfrontiert, kommentiert Fischer nachdenklich und offen, selbstironisch und witzig das Geschehen und eröffnet damit auch neue Sehweisen auf seine Person und jene Zeit. Der Politiker hat Geschichte geschrieben, doch es ist die ganz besondere deutsche Situation, die seine Karriere erst ermöglicht hat. Zeitzeugen wie Katharina Thalbach, Daniel Cohn-Bendit, die Musiker der Band «Fehlfarben», die zu Worte kommen, runden den Film zu einem gelungenen informativen und unterhaltsamen Werk ab.

Joschka Fischer, in Daten und Zitaten aus dem Film

1948: Joseph „Joschka“ Martin Fischer wird am 12. April in Gerabronn (Baden-Württemberg) als drittes Kind des Metzgers Joszef Fischer und dessen Frau Elisabeth geboren. Die Eltern stammen aus Budapest und mussten als sogenannte „Ungarndeutsche“ 1946 aus ihrer Heimat fliehen. «Meine Kindheit ist voll mit Vertreibungsgeschichten. Ich habe nie etwas über den Holocaust gehört.»

1965: Die Familie zieht nach Fellbach bei Stuttgart um. «Meine Eltern waren das, was man christdemokratisches Stammwählermilieu nannte. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter mich jemals gewählt hat.»

1965/66: Kurz vor Abschluss des 10. Schuljahrs verlässt Joschka Fischer im März 1965 das Gymnasium. Anschliessend beginnt er eine Lehre als Fotograf, die er aber bald abbricht. «Ich beendete das nach einem Jahr auf die übliche Weise: mit zwei Sätzen und einer zugeschlagenen Tür.»

1966: Reisen durch Europa, die Türkei und Kuwait. Tod des Vaters und der Schwester.

1967:Joschka Fischer engagiert sich in der Studentenbewegung und lebt zunächst in Fellbach.

1968: Umzug nach Frankfurt am Main. Dort besucht Fischer – obwohl nicht immatrikuliert – Vorlesungen von Adorno, Habermas und Oskar Negt. «Adorno, Horkheimer, Habermas – das waren die ganz schweren Theorien, da wollte ich hin. Und weil ich kein Abitur hatte, konnte ich mich nicht einschreiben und bin einfach so dahin. Ich habe richtig studiert, ohne eingetragen zu sein.»

1968-75: Fischer schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Freundschaft mit dem in Frankreich berühmt gewordenen Studentenführer Daniel Cohn-Bendit. Als Mitglied der militanten Gruppe «Revolutionärer Kampf» (RK) beteiligt sich Fischer an Demonstrationen und Strassenkämpfen mit der Polizei. Nach einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg wird er zu zweimal drei Tagen Haft verurteilt. «Es waren sehr harte Auseinandersetzungen – von beiden Seiten … Jetzt wird sogar Guido Westerwelle zum 68er erklärt. Das hat er nicht verdient, das haben wir nicht verdient.»

1971: Arbeit bei Opel in Rüsselsheim. Fischer ist Mitbegründer einer Betriebsgruppe und bemüht sich, die Kollegen zu politisieren. Seine Aktivitäten führen bereits nach einem halben Jahr zur fristlosen Kündigung.

1977: Nach den Ereignissen des sogenannten «Deutschen Herbsts» wendet sich Fischer von radikalen politischen Gruppen ab. «Die Schleyer-Ermordung hat das Land sehr verändert – und sie hat mich sehr verändert. Das war das Gegenteil von dem, was unsereins gewollt hat. Bei mir und bei vielen anderen war eine ungeheure Erschöpfung und Resignation und die Erkenntnis, dass du in eine Sackgasse gelaufen bist.»

1976-81: Fischer arbeitet kurzzeitig bei den Vereinigten Deutschen Maschinenfabriken. Anschliessend erwirbt er den Taxischein und arbeitet als Taxifahrer in Frankfurt. «Im Taxi bin ich zum Realo geworden. Ich habe gelernt, dass das Grossartige und das Hundsgemeine in jedem Menschen ganz eng beieinanderliegen.»

1982: Fischer wird Mitglied in der Partei Die Grünen.

1983-85: Die Grünen ziehen bei der Bundestagswahl 1983 mit 5,6 Prozent Stimmenanteil erstmals in den Bundestag ein. Fischer wird über den dritten Platz der Landesliste Hessen Abgeordneter, muss aber 1985 wegen des Rotationsgebots seiner Partei wieder aus dem Parlament ausscheiden. «Am Anfang war das richtig Klassenkampf – vorurteilsbeladen, hassbeladen. Das darf man nicht vergessen, das ist heute ganz anders…Die Grünen haben den deutschen Parlamentarismus geändert, zum Positiven. Und sie wurden sehr stark verändert, durch den Parlamentarismus.» Während seiner Zeit als Mitglied des Bundestags gehört er zum Innenausschuss und ist Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Fraktion. Er macht sich als brillanter und provokanter Redner im Bundestag einen Namen. «Ich hab von der symbolischen Aktion wenig gehalten. Ich war Parlamentarier mit Leib und Seele, ich hab immer ganz klassisch an die Rede geglaubt. Du musst dich rhetorisch durchsetzen, aber nicht mit Blümchen, Kakteen, sauren Zweigen oder ähnlichem.»

1985-87: Rot-grüne Koalitionsregierung in Hessen. Fischer wird als Minister für Umwelt und Energie vereidigt – und erregt Empörung, weil er zu der Zeremonie am 12. Dezember 1985 in Turnschuhen antritt. «Ich hätte lieber andere Schuhe angezogen. Aber es musste sein; das wurde ausführlich diskutiert. Eine Macht hatte dieses Symbol bis auf den heutigen Tag – das ist unglaublich!» Fischer ist das erste Kabinettsmitglied aus Reihen der Grünen überhaupt. «Es war politisch ein echtes Himmelfahrtskommando. Das Sponti-Leben zeichnete sich durch ein hohes Mass an Freiheit aus. Passte es mir nicht – tschüss! Zum ersten Mal war ich gefangen, und ich hatte auch ein bisschen das Gefühl eines gefangenen wilden Tiers.»

1987: Im Streit um das Hanauer Nuklearunternehmen Alkem zerbricht die hessische Regierungskoalition. Joschka Fischer verliert sein Amt. Nach vorgezogenen Neuwahlen im April geht die Regierung in Hessen an eine christdemokratischliberale Koalition über. Fischer wird Fraktionschef der Grünen im Landtag. «Diese sechzehn Monate als Umweltminister waren nicht nur die schlimmsten, sondern auch die lehrreichsten. Weil ich hinterher wusste, wie Regieren geht, wie man Koalitionen macht, was Zuständigkeiten sind, was man braucht, um Reformen erfolgreich umsetzen zu können.»

1989: Fall der Mauer, Ende der DDR und des sogenannten «Ostblocks». «Für mich war klar: wenn Einheit, dann Europa. Weil wir Deutschen die sein werden, die den höchsten Preis bezahlen, wenn es mit Europa schief geht.»

1990: Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl scheitern die Grünen an der Fünf-Prozent-Hürde. Fischer fordert eine Strukturreform der Partei. Er setzt die Abschaffung der Rotation, die Wahl eines Parteivorsitzenden und Doppelmandate für einen kleinen Kreis von Landes- und Bundespolitikern durch.

1991: Bei den hessischen Landtagswahlen erreicht die neugebildete Partei Bündnis 90/Die Grünen 8,8 Prozent Stimmenanteil. Eine rot-grüne Koalition wird gebildet. Fischer wird erneut Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten und ausserdem Stellvertretender Ministerpräsident.

1994: Fischer tritt von seinem Amt als hessischer Umweltminister zurück, um sich ganz in der Bundespolitik engagieren zu können. Er spekuliert öffentlich über die Möglichkeit einer «Ampelkoalition» der «roten» SPD, der «gelben» FDP und der Grünen. Nach den Bundestagswahlen am 16. Oktober werden Fischer und Kerstin Müller zu Sprechern der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion gewählt.

1995: Im Juli stellt Fischer ein Grundsatzpapier vor, in dem er sich für die militärische Sicherung der UN-Schutzzonen in Bosnien ausspricht. Seine Forderungen sind bei den Grünen heftig umstritten. Im November fordert Fischer die «Interventionspflicht der Uno bei Völkermord» und entfacht damit erneut eine erbitterte Debatte in seiner Partei.

1996: Joschka Fischer entdeckt seine Leidenschaft für den Marathonlauf. Fischer reist durch das ehemalige Jugoslawien, um sich ein Bild von den Verwüstungen des Bürgerkriegs zu machen.

1998: Bei den Bundestagswahlen gewinnen SPD und Grüne die Mehrheit und bilden eine Regierungskoalition. Joschka Fischer wird Vizekanzler und als Aussenminister vereidigt. «Mir war in der Wahlnacht überhaupt nicht lustig zumute. Ich sah die Kriegsentscheidung auf uns zukommen. Ich wusste noch nicht, wie meine Partei das aushalten soll. Mein Kopf war voll mit dem, was kommt, und nicht: Hurra, wir haben's geschafft!» Er fordert die Nato zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen auf und löst damit eine diplomatische Krise aus.

1999: Im April legt Fischer einen Friedensplan vor, der die Entsendung einer schlagkräftigen Streitmacht mit einem UN-Mandat nach einem Waffenstillstand im Kosovo vorsieht. Auf einem Sonderparteitag der Grünen stellt sich die Mehrheit der Mitglieder hinter Fischers Kurs. Die Debatte ist äusserst hitzig; Fischer wird mit einem Farbbeutel beworfen und am Trommelfell verletzt. «Als ich beim Bielefelder Parteitag diesen Farbbeutel aufs Ohr bekam – da war ich so was von sauer. Ich wusste, ich darf es nicht, aber ich hätte mir ihn gerne gegriffen. Ich hab dann die vielleicht wichtigste Rede in meiner parteipolitischen Laufbahn gehalten.» Im Juni billigt der Deutsche Bundestag den Einsatz von 8.500 Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Kosovo-Friedenstruppe. Im November nimmt Fischer am New-York-Marathon teil und kommt nach 3 Stunden und 45 Minuten ins Ziel.

2001: Nach den Terroranschlägen des 11. September sichert Fischer den Amerikanern deutschen Beistand zu. Im November erteilt ein Bundesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen eine Zweidrittel-Mehrheit für Fischers Anti-Terrorpolitik.

2002: Im Mai verleiht die Universität Haifa (Israel) Joschka Fischer die Ehrendoktorwürde. Im September wird die rot-grüne Koalition bei einer Bundestagswahl mit knapper Mehrheit bestätigt.

2003: Der Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen verabschiedet eine auch von Fischer unterstützte Resolution gegen eine Invasion des Irak im Zeichen des «Kriegs gegen den Terror …Die Neocons und George W. Bush haben in der Frage Irak behauptet, eins und eins ist drei. Und ich hab von den USA gelernt dann zu sagen: No, Sir.» Fischer wird mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

2005: Für seine Verdienste als Vermittler im Nahostkonflikt verleiht der Zentralrat der Juden in Deutschland Joschka Fischer den Leo-Baeck-Preis. Heirat mit seiner aktuellen (fünften) Ehefrau, der deutsch-iranischen Filmemacherin Minu Barati. «Die damals noch kleine Tochter meiner Ehefrau Minu, die wollte wissen: ‚Was machst du eigentlich?’ Und dann zeigte ich ihr Bilder, und sie sagte: ‚Ach, ist das langweilig. Immer nur Händeschütteln!» (Lacht) «War auf den Punkt gebracht.» Bei der Bundestagswahl im September verliert Rot-Grün die Mehrheit.

2006: Am 27. Juni 2006 nimmt Fischer zum letzten Mal an einer Fraktionssitzung der Grünen Bundestagsfraktion teil. Am 1. September 2006 legt er sein Bundestagsmandat nieder. «Ich habe den Niedergang von Helmut Kohl erlebt und habe mich gefragt, warum tut er sich das an, dass er da noch rumsitzt. Warum kann er nicht die Tür zumachen, Schlüssel umdrehen und wegwerfen? Denn genau das wollte ich: Wenn es vorbei ist, ist es vorbei, und dann werde ich nicht als Denkmal meiner selbst auf den Hinterbänken sitzen.»

2006 bis heute: Fischer unterrichtet an renommierten Universitäten, hält Vorträge und gründet seine eigene Beraterfirma «Joschka Fischer & Company GmbH». «Ich verdanke meiner Partei unglaublich viel. Aber ich habe mich auch an ihr erschöpft.»

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