Jaffa
Die Jüdin Mali lebt mit ihren Eltern und ihrem Bruder Meir in Jaffa. Ihr Vater Reuven besitzt eine Autowerkstatt, in welcher Malis Geliebter Toufik und dessen Vater, beides Palästinenser, seit langem als Mechaniker arbeiten. Seit Jahren halten Mali und Toufik ihre gegenseitige Zuneigung vor ihren Familien geheim, denn niemals würde Malis Vater die Beziehung seiner Tochter zu einem Araber akzeptieren. Als Mali ungewollt schwanger wird, entschliesst sich das junge Liebespaar zu einem mutigen Schritt. Sie planen gemeinsam, der aussichtslosen Situation zu entfliehen und ihr Kind woanders gross zu ziehen. Kurz vor der Flucht kommt es aber zu einem Unfall während eines handfesten Streits zwischen Meir und Toufik, und die beiden Liebenden werden getrennt. Werden Mali und Toufik jemals wieder zueinander finden?
Würdigung
Der jungen israelischen Regisseurin Keren Yedaya (Jahrgang 1972) gelingt in ihrem zweiten Film die Geschichte von Romeo und Julia glaubwürdig und realistisch im aktuellen Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts zu erzählen. «Jaffa» gibt in der Form einer Parabel eine kluge Deutung des radikalen Nicht-Akzeptierens des je andern Volkes in Israel und Palästina – verallgemeinert auch der Situation in andern Ländern und im Privaten, Zwischenmenschlichen. Nur wenn eine neue Generation den radikalen Bruch mit den Eltern und ihren Vorurteilen wagt, ist ein friedliches Zusammenleben der beiden Völker möglich – wäre da nicht (im übertragenen wie im realen Sinn) schon zu viel verbaut, gäbe es da beiderseits und weltweit nicht den religiösen Fundamentalismus.
Der Autorin, die schon mit ihrem ersten Film mehrfach ausgezeichnet worden war, gelang hier das Kunststück, eine gut verständliche und spannende Geschichte zu erzählen, ohne dabei den komplexen Hintergrund zu vernachlässigen. Auch wenn das Ende des Filmes offen bleibt, lässt das Schlussbild mit dem Kind aus der jüdisch-arabischen Liebesbeziehung auf eine bessere Zukunft hoffen.
Hintergrund
Jaffa, die Stadt der Orangen, ist ein urbanes Paradoxon. Ohne es zu wollen, steht sie für die Verständnisschwierigkeiten zwischen Israelis und Palästinensern und zugleich für den kulturellen Reichtum einer Zivilisation, an der beide Völker teilhaben. Nichts ist in Jaffa nur arabisch oder nur israelisch, da jeder in dieser wunderschönen Hafenstadt einer nachbarschaftlichen oder gedanklichen Mischgemeinschaft angehört, die alle Kluften friedlich überwindet. Auch wenn die Konflikte vor allem der letzten sechzig Jahre die Haltungen der beiden Lager radikalisiert haben, so sticht Jaffa doch durch seinen berühmten Kosmopolitismus hervor.
Heute ist Jaffa ein Vorort von Tel Aviv, des Zentrums des modernen und liberalen Israel. Mehr als 1500 Jahre vor unserer Zeitrechnung findet der Name Jaffa bereits in ägyptischen Schriften Erwähnung. Als Hafen von Jerusalem beherbergte die Stadt Hebräer, Phönizier, Griechen, Römer, Araber, Osmanen. Napoleons Armeen und britische Besatzer sah sie kommen und gehen. Zwischen 1921 und 1939 kam es im Rahmen von Streiks und Aufständen der Araber, die sich gegen die Gründung eines zionistischen Staates in dieser Region richteten, immer wieder zu Gewalttaten gegen die Juden. Nach der Staatsgründung Israels 1948 fanden zahlreiche jüdische Flüchtlinge aus den Konzentrationslagern in Jaffa eine Heimat; gleichzeitig mussten die arabischen Einwohner, für die 1948 die Nakba (Katastrophe) ist, die Stadt, ihre Heimat verlassen. 60 Jahre später haben sich viele von ihnen im Gazastreifen, in der Westbank, in Jordanien oder im Libanon niedergelassen. Ihre Nachkommen, die sich heute auf etwas 20’000 beziffern, nennt man «arabische Israelis», ein gelegentlich lebbarer, doch sehr oft schikanöser Zustand für die Palästinenser. Aktuell fürchten die Palästinenser den rechtsextremen Avigdor Liebermans, der sie aus Israel und der Westbank zu verjagen versucht, und den Präsidenten Benjamin Netanjahu, der den Siedlern hilft, ihre Landnahme täglich weiter zu führen. Die Israelis und die Palästinenser haben den Gedanken an eine friedliche Lösung des Konflikts seit Jahren begraben. Die kulturellen und sozialen Gräben werden immer tiefer, die Mauer in der Landschaft und in den Köpfen höher.
Aus einem Interview mit Keren Yedaya
Wie kam es zu diesem Film?
Ich habe angefangen, über «Jaffa» nachzudenken, nachdem ich das Drehbuch zu «Mon trésor» geschrieben hatte. Ich wollte einen politischen Film über Israel und Palästina machen. Aber ich wollte ein grösseres Publikum ansprechen als es das «politische Kino» normalerweise vermag. Ich war ernsthaft davon überzeugt, dass man ein subversives Kunstwerk schaffen könne, ohne dabei auf ein breites Publikum verzichten zu müssen. Mein Interesse für das ägyptische Kino, das meine Jugend begleitet hatte, wurde auf natürliche Weise geweckt. Als ich klein war, zeigte das israelische Fernsehen jeden Freitag ägyptische Filme. Sie wurden zu einer wunderbaren Inspirationsquelle für mich, sowohl in politischer als auch in ästhetischer Hinsicht.
Wieder sind Ihre Figuren in einem bescheidenen Milieu angesiedelt.
Stimmt. Bisher wollte ich immer von Menschen erzählen, die um ihre menschlichen Grundbedürfnisse kämpfen müssen.
Die einzelnen Familienmitglieder haben grosse Verständigungsschwierigkeiten untereinander.
Absolut. Ich glaube, darin liegt unsere Tragödie begründet: Wir achten nicht auf den Standpunkt des anderen. In meinem Film sehen die Menschen einander nicht, sie reden nicht miteinander und sie hören sich nicht zu. Nach aussen hin scheint es eine ganz normale Familie zu sein. In Wirklichkeit ist sie ziemlich gestört.
Erzählen Sie mir von Vater und Sohn.
Da fällt mir eine kleine Geschichte ein: Während des Drehs wurde Moni Moshonov, der den jüdischen Vater spielt, plötzlich klar, was für eine Figur er da verkörpert. Er sagte: «Jetzt verstehe ich: Ich bin die Stimme, die man nie vernimmt. Ich bin der nette Kerl, der kein Rassist ist und ein guter Familienvater usw. Aber in Wirklichkeit bin ich genau so schuldig wie alle anderen.» Da dachte ich, dass der rassistische und gewalttätige Sohn, der so unglücklich ist, nicht schlimmer ist als sein Vater. In Wirklichkeit steht er nur offen zu dem Rassismus und der Gewalt, die auch alle anderen Figuren auszeichnet, mit Ausnahme von Mali.
Warum haben Sie den Film in «Jaffa» angesiedelt?
Ich fand es interessanter, die Geschichte in Israel anzusiedeln, statt in den sogenannten «besetzten Gebieten», Gazastreifen, Jenin usw. Dort ist der Unabhängigkeitskampf der Palästinenser viel klarer als mitten in Israel, wo der Kampf viel komplexer ist und dem Rest der Welt weit weniger bekannt. Die in Israel lebenden Palästinenser, die man «arabische Israelis» nennt, sind offiziell israelische Bürger, die aber immer noch gewisser Rechte beraubt werden. Ich habe in Jaffa gedreht, um zu zeigen, dass man den Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht regeln kann, indem man eine Mauer errichtet.
Das Thema Abtreibung in dem Film steht für die Widersprüche in der israelischen Gesellschaft.
Genau. Ich wollte zeigen, dass man offen über Abtreibung reden kann, da Israel grundsätzlich eine sehr aufgeschlossene Gesellschaft ist, dass man seine Entscheidung jedoch vor einer Kommission rechtfertigen muss, wenn man eine kostenlose Abtreibung will. Andererseits weiss jeder, dass man seine wahren Motive verbergen kann, ohne dass auch nur ein einziges Mitglied der Kommission einem den einmal beschlossenen Schwangerschaftsabbruch auszureden versuchen wird.
Warum haben sie «Jaffa» einen so radikalen visuellen Stil verpasst?
Was den Stil angeht, so wollte ich den Film vor allem verführerisch und zugänglich gestalten. «Jaffa» sollte wie ein volkstümliches Melodram aussehen. Naschzeug fürs Publikum, aber mit einem komischen Beigeschmack. Das volkstümliche ägyptische Kino hat mich stark beeinflusst. Diese Art Filme brachte mich dazu, mir die Frage nach der sogenannten E- und U-Kunst zu stellen, die wiederum mit Hochkultur und Volkskultur zu tun haben. Eine Frage, die nicht nur vom künstlerischen, sondern auch vom politischen Standpunkt her interessant ist.
Was haben Sie damit beabsichtigt?
Ich wollte eine Debatte darüber lostreten, was als ästhetisch und edel betrachtet wird und was als minderwertig und volkstümlich, und vielleicht ein ganz kleines bisschen die Grenzen verschieben, die unsere Kreativität einschränken. Und ich wollte zeigen, dass man auf kultureller und ästhetischer Ebene auch die Kultur des anderen, in meinem Fall die arabische Kultur, wertschätzen kann, und nicht nur die europäische Kultur, die in künstlerischer Hinsicht weiterhin als Gradmesser gilt.
Hat sich das für Sie als schwierig erwiesen?
Enorm schwierig. Das Endergebnis ist schlüssig und der Film – so hoffe ich zumindest – ist interessant und hat Stil. Aber alle, die wir an diesem Film zusammen gearbeitet haben, haben wir uns lange gefragt, ob diese stilistische «Hybridform» funktionieren würde.