Joan Baez I am a Noise
Joan Baez, mit 18 bereits berühmt
«Joan Baez I am a Noise» ist weder ein konventionelles Biopic noch ein traditioneller Konzertfilm, sondern ein aufwendig recherchierter und tief empfundener Dokumentarfilm mit exklusivem Zugang zu unveröffentlichtem Material. Die drei erfahrenen Filmemacherinnen Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle haben Joan Baez auf ihrer letzten Welttour begleitet und sind in ihr beeindruckendes Archiv aus Privatvideos, Tagebüchern, Kunstwerken und Musikaufnahmen eingetaucht.
Hier begegnen wir Künstlerinnen und Künstlern aus der Musikszene der 60er- bis 80er-Jahre und Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus der Politszene, angereichert mit Tonaufnahmen ihrer Therapiesitzungen. Darin versuchte sie ihre schwierige Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie hatte lebenslang psychologische und emotionale Probleme, litt an Panikattacken und Neurosen, rivalisierte mit ihren Schwestern Mimi und Pauline und litt unter ihren Eltern, vorab dem Vater, bei dem man von Übergriffen, aber auch von «Pseudoerinnerungen» sprach. Seit 16 war sie in Therapien.
«Jeder hat drei Leben: das öffentliche, das private und das geheime», meint Gabriel Garcia Marquez. In diesem Sinne wollte ich die drei Leben von Joan Baez im Film beschreiben. Doch schon nach zwei Minuten gab ich es auf, denn die Zeiten und Themen, Perspektiven und Formen vermischen sich zu einem bunten, uns vereinnahmenden Bilderreigen. Entstanden ist, anders als erwartet, ein faszinierendes, tief und breit ausladendes Porträt, das die Zufälligkeit einer Person übersteigt und zum Gleichnis eines Menschen zwischen Kreativität und Irrsinn wird, was auch uns «Normalos» solch menschliches Verhalten erleben und verstehen lässt.
«Oh Freedom, oh Freedom. Oh Freedom, Freedom over me. And before I'll be a Slave. I'll be Buried in my Grave. And Go Home to my Lord and be Free» Diesen bekannten Hymnus, hatte Baez immer und immer wieder mit ihrem authentischen und berührenden Sopran gesungen und vor allem von den Jungen darauf Antworten bekommen. Auch von mir, der ich 1979 bei einer Demonstration in Washington, wo ich ferienhalber war, eine Reihe hinter ihr und Coretta Scott King, der Frau des ermordeten Martin Luther King, mitmarschierte und mit den Tausenden von Menschen, die an den Traum von Freiheit glaubten, mitsang. «I have a Dream», hat King an derselben Stelle am 28. August 1963 die Welt dazu aufgerufen.
«I am not a Saint, I am a Noise», meinte Joan im Film, der uns oft wie Lärm, Rauschen oder ein Geräusch mitnimmt in eine Welt, welche diese Frau als Symbol verkörpert. Diese Welt, eine äussere und eine innere, hat uns Karen O’Connor, eine der Regisseurinnen, die seit Jahren mit Joan Baez befreundet ist, geschenkt.
Den Rahmen für den Film bilden Konzertszenen und Backstage-Aufnahmen während der Abschiedstour «Fare The Well», welche die «Queen of Folk» 2018/19 nochmals um die Welt führte. Zu Beginn, in der Mitte und am Schluss zeigen die Filmemacherinnen in unaufgeregten Aufnahmen und aus abwechslungsreichen Perspektiven Baez auf der Bühne, auf der sie ihre Protestlieder und ihre längst zu Klassikern avancierten Folk- und Pop-Songs präsentierte. Mal ist sie allein mit ihrer Akustikgitarre zu sehen und zu hören, mal wird sie von ihrer Band begleitet, zu der auch ihr Sohn, der Schlagzeuger und Perkussionist Gabriel Baez, zählt.
Eingestreut einige ihrer prägenden Begegnungen. So die erste lesbische Liebesbeziehung mit 19 Jahren, die Begegnung mit Bob Dylan, mit dem sie eine leidenschaftliche und gegenseitig befruchtende Beziehung, am Schluss jedoch Frustration erlebte. Ein künstlerischer wie kommerzieller Höhepunkt wurde ihr 1975er-Album «Diamonds & Rust», in dessen Titelsong sie ihre missglückte Liebesbeziehung mit Bob beschreibt. Auftritte haben neben ihm unter anderen Leonard Cohen, Joni Mitchell und Patti Smith, die den Film produziert hat.
Joan mit James Baldwin (l) und James Forman
Der Vietnamkrieg rückte in den Fokus ihrer politischen Leidenschaft, trug auch in unerwartetem Masse dazu bei, dass sie zur Legende wurde, so mit «March on Washington for Civil Rights» oder dem Protestmarsch von Selma nach Montgomery in Alabama. Sie engagierte sich für den Militärdienstverweigerer David Harris, den sie heiratete und mit ihm einen Sohn hat. Oder als Mitbegründerin des «International Human Rights Commitee» und weiteren Organisationen. Auch mit Aktionen gegen die verschärften Einwanderungsgesetze und gegen den Einsatz von Landminen, bis in neuerer Zeit mit ihrem Engagement für die Ukraine und gegen Trump. Sie ging auf die Strasse und setzte sich mit ihrem berühmten Namen immer wieder für die Anliegen unterdrückter Minderheiten ein. Sie boykottierte auch die populäre Musiksendung «Hootenanny», die unbequeme Künstler wie Pete Seeger auf eine schwarze Liste gesetzt hatte, blockierte mit anderen Demonstranten mehrfach Armeegebäude, hängte in Grossstädten wiederholt Plakate gegen die Atomaufrüstung auf und gründeten 1965 im kalifornischen Carmel das «Institute for the Study of Nonviolence».
Juan auf ihrer Abschiedstour
Neben ihrem Lampenfieber war aus ihrem privaten Leben nur wenig bekannt, auch nicht ihre Probleme in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie habe grosse Mühe in Zweierbeziehungen, bekennt sie, erlebe jedoch mit 2000 Menschen echte Intimität.
Mit ihren Liedern, aber auch ihrer aufrechten, kämpferischen Haltung, hat Joan Baez Generationen von massgeblichen Künstlerinnen und Politikerinnen und Politiker, aber auch «ganz gewöhnliche» Menschen auf der ganzen Welt beeindruckt und beeinflusst. Heute blickt die 82-jährige Sängerin und Aktivistin zurück auf ihre Karriere und ihr Privatleben. Der Film «Joan Baez I am a Noise» ist dazu das ungeschminkte, ehrliche Dokument dieser einzigartigen Frau, die nur mit einer Gitarre bewaffnet und ihrer unverwechselbaren, früher glasklaren, heute etwas dunkleren Stimme Musik- und Weltgeschichte geschrieben hat.
Während Jahren durchleuchtete Joan in schonungslosen Selbstbefragungen ihr Leben auf und abseits der Bühne, festgehalten in den Aufnahmen ihrer Therapiesitzungen, Tagebucheinträgen, Zeichnungen, die zum Teil im Film animiert werden, und in den aufgezeichneten Telefonaten mit ihren Eltern. Dabei stösst sie in ihr Unterbewusstes vor, in die «Dunkelheit», die «Hölle», um nach Jahren «auf der Achterbahn ihrer ungelösten Geheimnisse» sich mit «den inneren Dämonen zu versöhnen» und im Alter zu ihrem tiefmenschlichen «Ganz-Sein» zu gelangen – was uns Zuschauerinnen und Zuschauer im Herzen und im Verstand treffen und weiterbringen dürfte.