Julieta

Ein Mutter-Tochter-Drama: Eine Mutter sucht ihre verschwundene Tochter, nachdem beide am Tod des Geliebten und Vaters gelitten haben. Vielschichtig und sinnlich erzählt von Pedro Almodóvar im Film «Julieta».
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Julieta und Xoan mit Tattoo

Die Mittfünfzigerin Julieta lebt in Madrid, hat sich aber entschlossen, mit ihrem Freund Lorenzo nach Portugal zu ziehen. Der Wohnortswechsel wäre eine Flucht, denn in ihrem Leben liegt einiges im Argen. Dann trifft sie Beatriz, die Jugendfreundin ihrer Tochter Antía. Diese erzählt ihr, dass sie sich zufällig am Comer-See begegnet sind. Die Nachricht trifft Julieta wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn sie hat seit Jahren kein Lebenszeichen mehr von ihr erhalten, nachdem diese sie mit achtzehn ohne ein erklärendes Wort verlassen hat. Ihre Abwesenheit erfüllt und zerstört sie. Mutter und Tochter litten am plötzlichen und belastenden Tod von Xoan, Julietas Mann, Antías Vater, der die beiden auseinander brachte. Auf jedem erdenklichen Weg suchte die Mutter jetzt ihre Tochter, doch alles, was sie herausfindet, ist, wie wenig sie ihr Kind kennt. Je länger je mehr öffnen sich in diesem Mutter-Tochter-Drama Abgründe einer Tragödie.

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Julieta beim Schreiben ihres Briefes

Vertieft mit weiteren Geschichten

Ein langer Brief an die verschwundene Tochter ist Ursprung der zahlreichen Rückblenden des Films. Mit diesen fächert Almodóvar die tragische Geschichte über eine dreissigjährige Zeitspanne, von 1985 bis heute, auf. Darin wechselt er souverän Zeiten und Räume und erweitert die zentrale Geschichte mit Nebenhandlungen: einer früheren Beziehung Xoans mit der Künstlerin Ava; Julias Begegnung mit ihren Eltern und ihres Vaters Liaison mit der jungen Hausangestellten, aus der später ein Stiefbruder entstand; das Verhältnis von Xoan zu seiner früheren Frau Ana, die nach fünfjährigem Koma starb.

Die Geschichten auf den Nebenschauplätzen wachsen auseinander und ineinander, ergänzen und bereichern sich. Die Summe der Ereignisse übersteigt das Einzelschicksal, verdichten sich zu einem allgemein-gültigen Gleichnis, das die Dimension einer griechischen Tragödie annimmt. Wohl nicht zufällig arbeitet Julieta als Lehrerin für antike Literatur. Die Grundstimmung des neuen Filmes von Almodóvar, der nach seiner missratenen Komödie «Los amantes pasajeros» wieder zu seinem bevorzugten Genre, dem Melodrama, zurückgefunden hat, sind Trauer über Verlust, Leidenschaft und Reue. Die tragischen Schicksalsschläge reissen die Menschen unergründlich auseinander und machen sie einsam.

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Julieta und der ungebetene Gast

Pedro Almodóvar, der Frauenversteher

Gleich von der ersten Einstellung an begegnet man bei «Julieta» wieder dem alten Almodóvar. Da sind sie wieder, seine sorgfältig und fantasievoll komponierten Einstellungen, die leuchtenden Farben, die eleganten Schnitte und klassischen Szenenverbindungen mit Briefen, zerrissenen Fotos und Telefonaten sowie die Musik, die uns von Akt zu Akt tiefer in das Seelendrama hineinreisst. Im Zentrum erzählt der Film vom Schicksal einer Mutter und ihrer Tochter. Dafür hat der Regisseur drei Kurzgeschichten aus dem Band «Runaway» der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro adaptiert und nach Spanien verpflanzt.

Immer wieder erfindet Almodóvar in seinem Oeuvre Porträts von Frauen mit berührender Sinnlichkeit und bewegender Emotionalität. Als bekennender Homosexueller scheint er in seinen Filmen eine ganz besondere Beziehung zu Frauen, deren äusseren Schönheit, deren geheimnisvollen Seelenleben und deren Leidenschaft zu haben. Seine Schauspielerinnen sind ausgezeichnet ausgewählt und sorgfältig geführt, hier vor allem Emma Suárez, die die Titelheldin im Alter, und Adriana Ugarte, die sie in der Jugend spielt. Ihnen, wie auch den Frauen in den Nebenrollen, gelingt es, dass wir eintauchen in dieses Frauen-Universum: mit Julieta, der sinnlichen und klugen Protagonistin, der Bildhauerin Ava mit ihren phallische Plastiken und der gestrengen Haushälterin Marian, die im erotischen Reigen Schicksal spielt.

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Xoan und Julieta treffen sich im Zug

Wieder der alte Almodóvar

Julieta wird, auf einer früheren Zeitebene, im Intercity von einem alten Mann angesprochen, der sich mit ihr unterhalten möchte. Sie weicht ihm aus, kurz darauf wirft dieser sich unter den Zug. Noch auf der gleichen Zugfahrt lernt sie den jungen Fischer Xoan kennen, sie lieben sich, und bald schon wird Antía geboren. Als diese zum Teenager heranwächst und in ihrem Umfeld Verdrängtes und Verschwiegenes wahrnimmt, verschwindet sie, was Julieta fast zur Verzweiflung bringt. Diesmal zeigt dies der Regisseur jedoch nicht auf die exzentrische Art früherer Filme, wie etwa 1988 in «Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs», sondern still und nach innen gerichtet. Alice Munros Kurzgeschichten mit ihrer präzisen Psychologie setzt Pedro Almodóvar in schöne und vielsagende Bilder sowie poetische und mysteriöse Töne um.

«Julieta» berührt, bleibt im Gedächtnis oder kann sogar in unsere Träume schlüpfen. Dialoge und Bilder gehen unter die Haut, weil sie die eigenartige Ambivalenz der Mutter-Tochter-Beziehung mit grosser Intensität spürbar macht, erfüllt von Schmerz und Freude, von Pflichtgefühl und Verantwortung, diesmal zudem mit einem kleinen Hoffnungsschimmer. Jetzt, mit 66 Jahren, hat er das Schrille, Grelle und Überdrehte früherer Filme abgelegt. Mit «Julieta» liefert er den Beweis seiner formalen und menschlichen Reife. Almodóvar ist, wie er sagt, in einer «Phase der Mässigung».

Regie: Pedro Almodóvar, Produktion: 2016, Länge: 99 min, Verleih: Pathé