Jusqu'à la Garde
Miriam, die Richterin, Antoine
Gerichtsfilme bewegen sich üblicherweise langsam, gradlinig oder verschlungen, ihrem Höhepunkt zu, der Urteilsverkündigung. Zeugen haben ausgesagt, Detektive nachgeforscht, Anwälte plädiert, das Gericht das Urteil verkündet, dann löst sich die Spannung. Anders ist es im ersten Spielfilm von Xavier Legrand, «Juscqu'à la Garde», der 2017 in Venedig den Regiepreis erhalten hat. In der Eröffnungsszene kämpft Antoine Besson mit seiner Anwältin um das Besuchsrecht für seinen elfjährigen Sohn Julien. Seine Ex-Frau Miriam wehrt sich gegen diesen Anspruch und berichtet von Gewaltausbrüchen gegen sie und ihre bald volljährige Tochter Joséphine. Dann wird das Urteil verkündet; die Betroffenen müssen damit leben.
Distanziert, fast schon dokumentarisch und in voller Länge zeigt Legrand die Gerichtsverhandlung. Die Kamera blickt von Antoine zu Miriam und wieder zurück, ergreift keine Partei, enthält sich jeder Wertung, doch die Entzweiung ist spürbar. Das Urteil heisst: Julien muss jedes zweite Wochenende bei seinem Vater verbringen. Ambivalenz ist in diesem Anfang verborgen, die Zweifel weckt: Ist Antoine wirklich so gewalttätig, wie Miriam ihn beschreibt? Stimmt seine Anschuldigung, dass seine Ex-Frau die Kinder gegen ihn ausspielt? Wie ist die Verletzung Joséphines zu erklären, die Miriams Anwalt als Argument ins Feld führt?
Julien, zwischen den Eltern
Das Leben nach dem Urteil
Nun beginnt die eigentliche Handlung. Die gemeinsamen Wochenenden mit Antoine werden für Julien zur Tortur. Bloss nicht den Vater provozieren, nicht mit ihm streiten, keinen Verdacht erregen. Denn Antoine ist nicht der fürsorgliche Vater, als den er sich ausgibt. Er manipuliert den Jungen und entlockt ihm den neuen Wohnort der Mutter, denn er will Miriam zurückhaben, notfalls mit Gewalt. Eltern lassen sich scheiden, Familie brechen auseinander, die Kinder bleiben als die unschuldig Leidtragenden zurück. Der Regisseur macht die Zwangsläufigkeit dieser Handlungen deutlich. Die Vorgeschichte des Paares, Kennenlernen, Verlieben, Ehealltag und Entfremdung, spart er aus. Was wirklich zwischen den beiden geschehen sein muss, erfahren wir nicht. Die Personen werden nur über ihre Aussagen, ihr Verhalten, ihre Körpersprache erfahrbar. Vor allem der junge Julien zeigt mit ausdrucksvollem Gesicht seine Verachtung für den gewalttätigen Vater, sein verspannter, abgewandter Körper zeugt von Resignation und Hilflosigkeit. Wenn er ängstlich neben Antoine im Auto sitzt, wirkt er wie ein Gefangener. Die Mutter zeigt sich eingeschüchtert, leidend, ist stets auf der Hut. Der Vater beherrscht allein schon durch seine Körperfülle das Bild, es scheint in ihm zu brodeln, auch wenn er äusserlich ruhig wirkt. Er leidet unter der Scheidung, will das Richtige und tut das Falsche. Stets könnte von ihm Gefahr ausgehen. Irgendwann könnte der angestaute Frust aus ihm herausbrechen. So funktioniert der Film als spannungsgeladener Thriller, von tiefer zwischenmenschlicher Problematik getragen. Das Finale, in dem Joséphine «Proud Mary» (https://www.youtube.com/watch?v=5hid10EgMXE) singt, kontrastiert zu parallelen dramatischen Szenen: erschreckend wie ergreifend zugleich. Und doch entlässt Legrand die Zuschauer mit einem Bild der Hoffnung aus dem Kino.
Mutter Miriam und Sohn Julien
Bis der Tod euch scheidet
«Alle zweieinhalb Tage stirbt in Frankreich eine Frau unter den Schlägen eines Mannes.» Mit diesen Worten fasst Xavier Legrand seine Begründung zusammen, ein relevantes Thema der Gesellschaft zu thematisieren, von dem zu wenig gesprochen wird, das oft ein Tabu bleibt: die häusliche Gewalt. Berührend, glaubwürdig und anregend wird die Erzählung durch das Drehbuch des Regisseurs und das Spiel von Léa Drucker als Miriam, Denis Ménochet als Antoine, Mathilde Auneveux als Joséphine und vor allen von Thomas Gioria als Julien.
Weder die Frau noch der Mann werden als Horrorfigur oder als Psychopathen dargestellt, sondern als Menschen wie du und ich, lediglich ein wenig die Grenze der Normalität überschreitend und sich selbst als Opfer erlebend. Opfer? Von wem? Von was? Neben gesellschaftlichen, psychologischen und biografischen Gründen kann es vielleicht auch eine Ideologie sein: die moralische Überforderung des im Ehezeremoniell enthaltenen Versprechens «Bis dass der Tod euch scheidet».
Auf dem Weg zu Miriams neuer Wohnung
Aus einem Interview mit Xavier Legrand
Wie in Ihrem Kurzfilm «Just Befor Losing Everything» handelt es sich bei «Jusqu'à la Garde» um ein soziales Drama, die häusliche Gewalt, das Spannung erzeugt. Sorgerecht ist auf Angst aufgebaut. Die Angst zielt darauf ab, wieder mit der Frau zusammen zu sein, die ihn verlassen will, um seinem gewalttätigen Verhalten zu entkommen. Der Charakter von Antoine ist eine permanente Bedrohung für seine Umgebung. Er löst bei allen Angst aus. Er kann nur seinen eigenen Schmerz fühlen, jeden andern manipulieren. Frauen wie Miriam, die unter häuslicher Gewalt leiden, sind stets in höchster Alarmbereitschaft. Sie wissen, dass die Gefahr überall und jederzeit ausbrechen kann und niemand davor sicher ist.
Was hat Sie veranlasst, in Ihren zwei ersten Filmen dasselbe Thema zu behandeln? Mein Kurzfilm zum Thema der häuslichen Gewalt führte mich zu Diskussionen in Frankreich und ins Ausland, wo er in Schulen gezeigt wurde und bei Jugendlichen Debatten auslöste. Ich wollte das Wesen dieser Gewalt weiter untersuchen: die männliche Herrschaft in den Beziehungen, den Wahnsinn der Besitzgier. Ein Thema, das mich fasziniert. Ich wollte auch mehr über den Unterschied zwischen Ehepaar und Elternpaar erfahren. Ich habe dieses Thema untersucht, traf mich mit Richtern am Familiengericht und folgte ihnen bei der Arbeit.
Sie beginnen den Film fast dokumentarisch mit einer Szene, in der das Paar vor die Richterin tritt. Man muss bedenken, dass solche Anhörungen sehr kurz sind, etwa zwanzig Minuten, in denen auch über die Zukunft der Kinder entschieden wird. Das Justizsystem geht davon aus, dass es, wenn die Gewalt auf einen Elternteil und nicht auf das Kind abzielt, nicht notwendig ist, die Verbindung mit diesem abzubrechen. Dies ist jedoch sehr komplex, selbst wenn das Kind ein berechtigtes Bedürfnis hat, beide Elternteile zu haben. Dabei kann sich ein Konflikt herauskristallisieren und zum Druckmittel werden, ein Instrument für den Partner, der ausgeschlossen wird. Der Richter bearbeitet rund zwanzig Fälle pro Tag, er oder sie hat nur ein paar Minuten Zeit, um die Situation zu beurteilen und zu sehen, ob das Gesetz respektiert wird. Es fragt sich: Was sehen die Zuschauer im Film? Für welche Argumente sind sie empfänglich? Wem glauben sie? Der Zuschauer macht sich während des ganzen Films seine Gedanken; der Richter hingegen wird niemals sehen, was nach der Urteilsverkündung geschieht.