L'Événement

Tagebuch einer Abtreibung: Eine Studentin wird schwanger – und was dann geschieht. Der eindrückliche Film «L'Événement» von Audrey Diwan schildert die Ereignisse authentisch, schonungslos und ohne Wertung. Obwohl er im letzten Jahrhundert in Frankreich spielt, dürfte er auch noch hier und heute Diskussionen auslösen zu Themen wie Männergesetze und Frauenschicksale. Ab 24. März im Kino
L'Événement

Die Protagonistin Anamaria Vartolomei

Anne, eine Studentin voller Hoffnung auf eine spannende Zukunft, wird ungewollt schwanger. In ihrem Land und zu ihrer Zeit, nämlich im Frankreich der 1960er-Jahre, hat sie keine Möglichkeit, die Schwangerschaft legal zu beenden. Sie steht vor dem Dilemma, entweder das soziale Stigma einer ledigen Mutter und das Ende ihrer beruflichen Ambitionen oder das Risiko einer illegalen Abtreibung in Kauf zu nehmen. Sie hat nur noch wenig Zeit, die Prüfungen stehen vor der Tür und ihr Bauch wird immer grösser.

Das gleichnamige Buch von Annie Ernaux, das dem Film als Vorlage diente, erschien 2000 in Frankreich, 2021 in der Schweiz. Beim Filmfestival von Venedig 2021 wurde der Film mit dem Goldenen Löwen als «Bester Film» prämiert. «L’Événement» ist in meinen Augen ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über das Thema Recht auf die weibliche Selbstbestimmung, die in zahllosen Ländern immer wieder neu unter Beschuss gerät.

«L’Événement» ist also ein Film, auf den Wim Wenders Satz zutrifft: «Der Film ist nicht erfunden worden, um von der Welt abzulenken, sondern auf die Welt hinzuweisen.»

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Die Regisseurin Audrey Diwan

Brief der Buchautorin an die Filmregisseurin


«Mich hat der Film tief bewegt. Das Einzige, was ich nach der Vorführung sagen konnte: Du hast einen wirklich wahrhaftigen Film gemacht. Mit wahrhaftig meine ich: Er kam dem so nah wie möglich, was es für eine junge Frau bedeutete, in den 1960ern schwanger zu werden, als Abtreibungen gesetzlich verboten waren und unter Strafe standen. Der Film behauptet nicht, verurteilt nicht und dramatisiert auch nicht.

Er folgt Annes Alltag als Studentin von dem Moment an, als sie vergeblich auf ihre Periode wartet, bis zum Abbruch ihrer Schwangerschaft. Er ist aus ihrer Perspektive erzählt. Ihre Gesten, ihr Verhalten, ihre Art zu gehen, ihr Schweigen drücken die plötzliche Krise in ihrem Leben aus. Der Film vermittelt das unsagbare Grauen der verrinnenden Zeit, auf der Leinwand angezeigt durch die Anzahl der Wochen, und die zunehmende Verwirrung und Entmutigung, weil alle Lösungen versagen. Doch er zeigt auch ihre Entschlossenheit, die Dinge bis zum Ende durchzuziehen. Und als alles vorbei ist, und Anne wieder von anderen Studierenden umgeben ist, widerspiegelt ihr heiteres und strahlendes Gesicht ihre Überzeugung, dass die Zukunft wieder ihr gehört. Ich kann mir auch keine andere als Anamaria in der Rolle der Anne vorstellen, in gewisser Weise spielt sie mich mit 23 Jahren. Ihre Wahrhaftigkeit ist überwältigend und exakt, so wie ich mich erinnere.

Ich denke, ich hätte diesen Film nicht so absolut lebensnah empfunden, wenn er verschleiert hätte, was Frauen vor der Verabschiedung des «Loi Veil», jenem Gesetz aus dem Jahr 1975, das Abtreibung in Frankreich entkriminalisierte, als Möglichkeiten zur Verfügung standen. Audrey hatte den Mut, es in all seiner brutalen Realität zu zeigen: die Stricknadeln etwa oder die Sonde, die bei der Abtreibung von der behandelnden Person in die Gebärmutter eingeführt wird. Nur solche verstörenden Bilder können uns die Schrecken vor Augen führen, die den Körpern dieser Frauen angetan wurden. Vor 20 Jahren schrieb ich: Was mir in jenen drei Monaten des Jahres 1964 widerfuhr, war die totale Erfahrung meines Körpers in der damaligen Zeit und ihrer Moral.»

Nachfolgend einige Antworten aus Interviews mit der Regisseurin, der Hauptdarstellerin und dem Kameramann (integral im Anhang):

Audrey Diwan zum Film

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Anne mit ihrer Mutter

Was hat Sie dazu bewogen, Annie Ernaux` autobiografischen Roman «L'Événement» zu adaptieren?
Ich kenne und schätze Annie Ernaux` Werk schon seit Langem: die Kraft ihrer Gedanken und die Klarheit ihres Stils. Beeindruckt hat mich der Gegensatz zwischen dem oft formelhaft verhandelten Thema illegaler Abtreibungen und der konkreten Realität dieses Vorgangs. Meine ersten Gedanken galten dem Körper dieser jungen Frau, der von dem Moment an, als sie erfuhr, dass sie schwanger war, gelitten haben muss, und dem Dilemma, mit dem sie konfrontiert war. Ihr Leben riskieren und abtreiben oder das Baby bekommen und ihre Zukunft opfern. Körper oder Geist. Ich hätte mich nicht entscheiden wollen. All diese Fragen werden in Ernauxs Text konkret gestellt. Ich habe versucht, sie in Bilder zu übertragen: in einen physischen Prozess, durch den ich die Erzählung in eine körperliche Erfahrung verwandeln konnte. Auf eine Art, die hoffentlich jenseits von Zeit und Geschlecht relevant ist.

Haben Sie Ihren Ansatz mit der Buchautorin besprochen?
Ja, von Anfang an. Ich wollte sowohl das Buch respektieren, als auch meine Position darin finden, eine schmale, aber wesentliche Gratwanderung. Zunächst haben wir eine Zeit zusammen verbracht, in der Annie sich bereit erklärte, sichdieser Tage und Wochen noch einmal im Detail zu erinnern. Sie beleuchtete die blinden Flecken im Text, um mir eine genauere Vorstellung vom gesellschaftspolitischen Kontext zu geben, damit ich die Angst verstehen konnte, die Frauen in dem Moment ergriff, wenn sie ihre Entscheidung treffen mussten. Als sie im Gespräch den genauen Zeitpunkt ihrer Abtreibung erreichte, kamen ihr die Tränen, als sie sich daran erinnerte, was die Gesellschaft ihr als junge Frau aufgezwungen hatte. Die Intensität ihres Kummers hat mich erschüttert, und ich habe beim Drehbuchschreiben oft daran gedacht.

Anamaria Vartolomei zum Film

 

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Anne, mit Freundinnen

Inwiefern war der Roman für Ihre Arbeit als Anne aufschlussreich?
Ernaux` Art zu Schreiben hat mich besonders inspiriert. Sehr abrupt, roh, ohne Schnörkel und sehr präzise. Annie ist eine resolute Autorin, die viel dazu beigetragen hat, die Situation der Frauen zu beleuchten. Sie setzt sich für deren Freiheit und Selbstbewusstsein ein. Was die Hauptfigur in «L’Événement» betrifft, zeigt der Roman, dass sie Sehnsüchte hat, die sie nicht verbergen will. Der Roman war eine Inspirationsquelle für das Verständnis der körperlichen Empfindungen meiner Figur, so auch ihres Schmerzes.

Laurent Tangy zum Film

Evenement.01
Einsam unter anderen

Wie entwickelte sich Ihre Arbeit als Kameramann von «L’Événement»?
Audrey und ich diskutierten über die Idee, den richtigen Ton zu suchen, ohne den Originaltext zu verraten. Wir mussten adäquate Bilder finden für die Gefühle und den Kampf dieser Frau auf der Suche nach Emanzipation und Freiheit in einer Welt, die nach den Regeln funktioniert, die Frauen unterdrücken. Wir tauchten in ihr Leben ein, indem wir mit der Kamera ganz nah an ihr dran waren und das Publikum mit langen Sequenzen in ihren Alltag versetzten.

Wie hat diese immersive Vision die Bilder beeinflusst?
Wir brauchten eine Schulterkamera, um der Protagonistin auf Schritt und Tritt zu folgen, ihren Reaktionen und ihrem Handlungsdruck. Das wiederum bedeutete Einschränkungen für die Beleuchtung, weil wir die Freiheit benötigten, ohne Unterbrechung oder Schnitt jede Bewegung Annas zu erfassen.

Erläutern Sie uns Ihre Entscheidung für das spezielle Bildformat.
Audrey hatte sich bereits für das Bildformat 1,37 : 1 entschieden, bevor ich an Bord kam. Sie wollte ihre Hauptfigur ganz in den Mittelpunkt stellen, nicht als ein Element unter vielen, sondern als Zentrum des Films. So erlebt das Publikum die Ereignisse mit ihr, ohne vorweg mehr zu wissen als sie. So entsteht eine Identifikation mit den Gefühlen der jungen Frau.

Interview mit Audrey Diwan, Anamaria Vartolomei und Laurent Tangy


Regie: Audrey Diwan, Produktion: 2021, Länge: 100 min, Verleih: Frenetic