La Syndicaliste
Maureen Kearney: eine grossartige Isabelle Huppert
Als engagierte Gewerkschafterin setzt sich Maureen Kearney beim Atomkonzern Areva für die gerechte Behandlung der Arbeitnehmenden ein und stellt dafür ihr Privatleben in den Hintergrund. Als ihr geheime Dokumente zugespielt werden, die Kooperationsbestrebungen der französischen Atomindustrie mit China belegen, steht sie im Kampf gegen Minister und Industrielle, die das Staatsgeheimnis um jeden Preis schützen wollen, bald allein da und gerät selbst in die Schusslinie. Sie wird überfallen, und der leitende Ermittler vermutet, dass sie das Ganze inszeniert hat. So wird sie in einer Schmutzkampagne vom Opfer zur Verdächtigen.
Der Thriller von Jean-Paul Salomé basiert auf dem Roman «La Syndicaliste» von Caroline Michel Aguirre und erzählt von wahren Begebenheiten. Isabelle Huppert gelingt als Maureen Kearney ein Balanceakt zwischen Stärke und Zerbrechen – und vertieft die Story zu einem Gleichnis für das Leben generell.
Maureen und Areva-Direktor vor Ort
Director's Note
Als ich «La Syndicaliste» von Caroline Michel-Aguirre gelesen hatte, erkannte ich sofort das filmische Potenzial dieses unglaublichen Falls, der in der Welt der Atomwirtschaft und Politik spielt und sich in die Tradition der grossen paranoiden Thriller einreiht.
Die schockierende Geschichte von Maureen wirft nicht nur ein Licht auf die undurchsichtigen Bereiche hoher Machtsphären, sondern erschüttert auch durch die klinische Herangehensweise an so aktuelle und dringende Themen wie die Stellung der Frauen innerhalb dieser Machtpositionen: die Bedeutung, die ihren Worten zugestanden wird, und die Annahme, sie seien wahnsinnig und manipulativ. Die Kearney-Affäre ist sowohl die Geschichte einer Whistleblowerin als auch die Geschichte einer Frau in einer Welt von Männern, die es nicht gewohnt sind, dass Frauen alles riskieren, um die Machthabenden anzugreifen.
Maureen Kearney ist keine Femme fatale, sondern eine Mutter und Ehefrau, wie wir sie jeden Tag treffen, eine Angestellte wie viele andere. Aber sie ist die Frau, welche die patriarchale alte Garde der Industrie, die sich an ihre Interessen und Selbstdarstellungen klammert, ausschalten muss. Weil sie eine Frau ist, muss sie die Beschämung ertragen, dass ihr nicht geglaubt wird, stets auf ihre Bedeutungslosigkeit verwiesen wird, die Verleumdungen ihrer Integrität zu ertragen hat, auf die Dramen reduziert wird, die ihr Leben mit intimen Wunden geprägt haben, was ihre Feinde nutzen, sie in den Augen ihrer Angehörigen und der Justiz zu diskreditieren.
Abgesehen von der Erzählweise, die wohl von amerikanischen Politthrillern inspiriert ist, wollen wir in erster Linie einen grundlegend politischen Film abliefern, ein überlebensgrosses Drama über die Funktionsweise von Macht und Gewalt gegen jene, die versuchen, sie zu erschüttern.
Dieser Film ermöglicht es mir auch, meine Zusammenarbeit mit Isabelle Huppert auf einer anderen Ebene fortzusetzen, mit dem Willen, sie eine Figur verkörpern zu lassen, die in der Realität verankert ist und mit der sich die Zuschauenden leicht identifizieren können.
«Haben Sie Maureen Kearney kennengelernt?»
Die folgenden Zitate sind einem Interview mit dem Regisseur und der Hauptdarstellerin entnommen, das integral im Anhang zu lesen ist. Jean-Paul Salomé: «Zunächst traf ich mich mit Caroline Michel-Aguirre. Ich erzählte ihr, was ich im Film gerne in den Vordergrund stellen wollte. Ihr Buch ist ein spannender Bericht einer Journalistin, eine gründliche Untersuchung der Funktionsweise der Affäre, in der sie Unglaubliches ans Licht bring. Sie war es, die die Ehefrau des Veolia-Managers aufspürte, die Opfer eines ähnlichen Angriffs wie Maureen geworden war. Aber abgesehen von den Fakten, den politischen und industriellen Herausforderungen, wollte ich wissen, was Maureen im Inneren erlebt hat, was ihre Angehörigen durchgemacht haben und wie sie sich wieder aufgebaut hat. Mir fehlte eine intime Dimension.
Das erklärte ich Maureen, als ich sie zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter traf. Ich sagte ihr, dass dies meine Vision einer Figur sei und dass die Drehbuchautoren Fadette Drouard und ich uns Familienszenen ausdenken müssen, die auf dem basieren, was wir von der Beziehung zu ihrem Mann und ihrer Tochter wahrnahmen. Wir mussten sie selbst erfinden.»
Luc Oursel, Areva-Direktor
«Wie hat Isabelle Huppert diese Rolle übernommen?»
Jean-Paul Salomé: «Es gibt eine Art Fluidität in unseren Beziehungen, eine Leichtigkeit, sich die Dinge einfach zu sagen. Isabelle geht sehr pragmatisch an die Schauspielerei heran, glaubt aber auch an die Spontaneität, was sich im Moment der Aufnahme ergibt. Auch ich bin pragmatisch, mache keine Proben, und sie verlangt keine von mir. Wir tauschten uns mehrmals über das Drehbuch aus. Wir skizzierten die Silhouette der Figur, die sich eher über ihr Aussehen als über Psychologie definiert. Dieser Ansatz passt gut zu Maureens Figur und ihrer eigenwilligen Garderobe: oft bunte Kleidung, auffällige Accessoires wie Brillen, von denen sie eine beeindruckende Sammlung besass, spektakuläre Ohrring etc. Sie hatte eindeutig nicht die gleichen Mittel wie die mächtigen Männer und Frauen, mit denen sie in Kontakt kam, war eine Person, die sich durch ihr Äusseres eine Rüstung erschuf, was ihr sehr gut gefiel. Eine Rüstung, die je nach den Umständen wegfiel. Wenn sie sich nach dem Überfall neu schminkt, ist auch das eine Art, die Rüstung wieder anzulegen und sich zu schützen.»
Ehemann Gilles Hugo und Tochter Fiona
Isabelle Huppert über ihre Rolle als Maureen Kearney
«Ich habe mir nie die Frage gestellt, ob Maureen schuldig oder unschuldig ist. Was mich interessierte, war die Verwirrung, die sie auslöste. Während des ganzen Films ist die Figur einzigartig, vom Beginn ihres Kampfes bis zur letzten Szene. Maureen kämpft gegen eine Hydra und für die Rettung von Arbeitsplätzen. Sie könnte aufgeben, aber in ihr steckt ein starker Wille, den Kampf immer wieder neu aufzunehmen. Sie ist eine Gewerkschafterin, hat sich entschieden, Widerstand zu leisten. Sie will sich auch ein Leben erfinden, das sich ziemlich von dem unterscheidet, was sie einmal war. Über lange Strecken ist sie allein und gegen alle.»
Isabelle ist Maureen und beide sind wir
In Geschichten verstricktes Sein – Versuch einer Deutung
Die Qualität dieses Filmes erschöpft sich nicht, scheint mir, im vordergründigen Thrill, sondern lotet tiefer in einem existenziellen, auch wenn dieser uns nicht sofort anspringt. Vielleicht hilft uns ein Text, den ich eben gelesen habe, weiter. In seiner «Philosophie der Geschichten» entwickelt Wilhelm Schapp* eine Deutung des Lebens, die auch für die Kunst, zum Beispiel den Film «La Syndicaliste» gelten könnte: «Statt nach dem Sein des Seienden zu fragen, soll man den Menschen als ein «In-Geschichten-verstricktes-Sein» wahrnehmen und verstehen. Was wie ein Apriori klingt, umschreibt den Menschen vor dem Denken, nämlich im Handeln, Forschen, Spielen, Lieben, Kämpfen, Lügen, Sterben und dies oft mit allen Emotionen.
Was der Mensch ist, soll also in seinen Geschichten abgelesen werden, in die er verstrickt ist. Metaphysische Höhenflüge geraten in Vergessenheit, meint der Philosoph, Geschichten bleiben bestehen! Dies gilt auch, so meine ich, wenn Literatur oder Filme diese erzählen, zum Beispiel die Geschichten von Maureen Kearney, die Jean-Paul Salomé konzipiert und inszeniert, Isabelle Huppert konkretisiert und realisiert haben – und die sie uns als Gleichnis zum Weitersinnieren anbieten.
* zitiert aus «Weltfrömmigkeit», 2023, von Andreas Iten, Romancier, Historiker, Essayist und Kolumnist im «Seniorweb»