Laissez-moi

Ein anderes ABC der Liebe: Jeden Dienstag geht Claudine, eine hingebungsvolle Mutter, in ein Berghotel, um sich dort mit Männern zu treffen. Als einer von ihnen seinen Aufenthalt für sie verlängern will, wird ihr Alltag auf den Kopf gestellt. «Laissez-moi», der Debütfilm von Maxime Rappaz, taucht ein in das Liebesleben einer Fünfzigjährigen: mutig und behutsam, allgemeingültig und provokativ. Ab 14. März im Kino
Laissez-moi

Michael und Claudine

Eine schöne Frau in den Fünfzigern fährt jede Woche mit dem Zug und dann mit der Seilbahn in ein Berghotel, wo sie mit Hilfe des Rezeptionisten ausländische und allein reisende Touristen trifft. Sonst lebt die geheimnisvolle Frau im Tal allein mit ihrem psychomotorisch behinderten Sohn.

Mit Claudine (Jeanne Balibar) beginnen wir oben auf Grande-Dixence ein Road-Movie der besonderen Art, nicht hinaus in die weite Welt, sondern hinein ins Innerste einer Frau und erkundigen mit ihr, was Liebe auch noch sein kann. Die beeindruckende Walliser Landschaft und der grandiose Staudamm werden zum Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen, von Benoit Dervaux visualisiert und von Antoine Bodson musikalisch illustriert. – Vielleicht enthalten bereits diese Reisen eine erste Botschaft des Films.

Im Hotel angekommen, erleben wir ihre Begegnungen mit den Männern, die Claudine sucht, für ein Zusammensein einlädt und sich wieder verabschiedet. Sie lässt sich von deren Biografie von Florenz, Brighton, Hamburg erzählen. Diese Angaben verwendet sie für Briefe an ihren Sohn Baptiste (Pierre-Antoine-Dubey), als ob diese vom verschwundenen Vater stammten.  – Die intensiven und dennoch diskret inszenierten Liebesszenen sind vielleicht eine zweite Botschaft  des Films: Lieben kann leidenschaftlich, wunderbar, spontan, befreiend sein; im Gegensatz zur Pornografie, aber auch der Sexualmoral gewisser Kirchen.

Eine dritte Botschaft rückt der Film gegen Schluss in den Vordergrund: den Abschied, das Sterben, angedeutet durch Äusserungen im Umfeld von Claudine und durch den Tod von Diana, der Princess of Wales, am 31. August 1997, die Baptiste inbrünstig verehrt.

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Baptiste und Claudine

Aus der «Absichtserklärung des Filmemachers»

«Die Mutterfigur hat schon immer meinen Wunsch nach einer Erzählung genährt und war hier von Anfang an klar, dass die Hauptfigur eine Mutter ist. Ich wollte eine Frau an jenem Wendepunkt des Lebens porträtieren, an dem die noch verbleibende Zeit kürzer ist als die gelebte, einem Punkt, an dem wir mehr als an jedem anderen das Bedürfnis verspüren, das Leben zu ändern.

Der Film berichtet von der Emanzipation einer liebenden Mutter, einer anspruchsvollen Geliebten, einer inspirierten Liebhaberin, einer Frau, die uns einen Sommer lang in ihre Welt entführt. Eine romantische Welt, die zwischen Tälern und Bergen als Kulisse, zur Selbstreflexion einlädt und, von selbst organisiert, es ihr ermöglicht, verschiedene Facetten ihrer Figur nebeneinander bestehen zu lassen.

Der Film stellt in Frage, den Mustern zu entsprechen, die den Zugang zum Glück verhindern, dies mit einer Grammatik, in dem scheinbar keine grossen Ereignisse stattfinden. Genau in diesem Fast-Nichts habe ich versucht, die inneren Stürme meiner Protagonistin zum Schwingen zu bringen und den Zuschauenden Zeit und Raum zu bieten, eigenen Gefühle, Hoffnungen und mögliche Leiden zu hinterfragen.»

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Auf dem Staudamm

Aus einem Gespräch von Jean Perret mit Maxime Rappaz

«Ich habe versucht, eine Topografie zwischen einem Oben und einem Unten zu komponieren, um das von Claudine geführte Doppelleben bildlich darzustellen. Auf der einen Seite ihr Alltag im Tal mit ihrem Sohn und ihrer Arbeit als Modeschneiderin, auf der anderen Seite die Auszeiten, die sie sich in den Bergen gönnt, wo sie als unabhängigere Frau agiert. Mir gefiel das Leitmotiv der Fahrten, welche die Wege zwischen den beiden Welten darstellt, dieses ist Teil des Aufbaus der Erzählung. Die Eröffnung des Films, die Fahrten in den dunkeln Tunneln, der schwindelerregende Staudamm und der entvölkerte Berg haben symbolischen Wert. Ausserdem war es wichtig, dass Claudine meine Erzählung in Richtung Märchen führte, fernab von Naturalismus.

Ich suchte eine Frau, die die Rolle einer Mutter, einer Geliebten und einer Verliebten spielen kann. Die mehrere Register ziehen kann, jenes des Alltags, der Schneiderei, des Zusammenlebens mit dem Sohn, und die der Höhenfluchten, wo sie sich als expansive Frau zeigt, in denen sie Begegnungen mit Fremden im Hotel provoziert. Eine elegante und geheimnisvolle Frau, von der eine Art Melancholie ausgeht, die berührt. Jeanne Balibars schauspielerische Stärke verleiht der Figur Reichtum an Nuancen und Ambivalenzen.

Die Liebesgeschichte, auch wenn sie sich für Claudine schliesslich als unmöglich erwies, diente ihr als Sprungbrett, um den Lauf ihres Schicksals zu ändern. Es war undenkbar, dass sie ihren Geliebten Michael über den Atlantik begleiten und sich gleichzeitig alles ändert würde. Am Ende der Erzählung hat sie ihren Sohn verloren, sich von ihrem Haus getrennt, ihren Geliebten davonfliegen lassen: Sie ist allein, weiss nicht, wohin sie gehen soll. Doch endlich ist sie befreit! Ich mag Enden, die sanft aufrütteln und Fragen stellen. Ich hatte Lust auf ein offenes Ende, bei dem die Figur nicht weiss, was aus ihr werden soll.» – In den Szenen gegen Schluss dürfte eine dritte Botschaft des Films angespielt, aber dennoch offen gelassen bleiben.

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Michael und Claudine

Vor und hinter der Kamera

Der vom Genfer Maxime Rappaz geschriebene und inszenierte Film «Laissez-moi» ist ein ergreifendes Werk, das Autonomie, Mutterschaft und Liebe mit einer seltenen Sensibilität erforscht und das Dilemma durchleuchtet, in dem Claudine hin- und hergerissen ist zwischen familiären Pflichten und dem tiefen Wunsch nach Unabhängigkeit und Leidenschaft. Dass dabei einzelne Zuschauende Grenzüberschreitungen erleben, ist möglich.

Die Französin Jeanne Balibar, die für ihre komplexen und nuancierten Rollen bekannt ist, liefert hier eine fesselnde Leistung, verkörpert die vielen Facetten von Claudine auf treffliche Weise. Der Deutsche Thomas Sarbacher, der Geliebte bis zum Schluss, und der Schweizer Pierre-Antoine Dubey, ihr Sohn, vervollständigen das Trio und verleihen der Geschichte zwischen Drama und Romantik eine eigene, eine grossartige Tiefe.

«Laissez-moi» zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, Intimität mit grosser Feinfühligkeit zu behandeln, und bietet dem Publikum bewegende und herausfordernde Reflexionen über die Liebe und das Leben. Die Leistung der Filmcrew und das Spiel der Hauptdarstellerin schaffen, in Verbindung mit den wie Seelenlandschaften gefilmte Umwelten, einen prächtigen und zugleich intimen Rahmen, der uns zum Eintauchen in Claudines Erzählung einlädt.

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«Dort auf der anderen Seite warten 400 Millionen Kubik-Liter Wasser darauf, uns zu überfluten… Ich glaube, ich möchte es versuchen… Wohin? Das weisss ich noch nicht.»

Regie: Maxime Rappaz, Produktion: 2023, Länge:  93 min, Verleih: Frenetic