Le grand voyage
Der 2004 mit dem «Leone del futuro» ausgezeichnete Film «Le grand voyage» des Marokkaners Ismaël Ferroukhi erzählt von einem Vater, der mit einem seiner Söhne als Pilger nach Mekka fährt. Das stille, verinnerlichte Roadmovie zeigt beispielhaft, dass Reise Lernen, zu tiefst Leben Lernen sein kann.
Lernen in der Begegnung
Zwei ausgesprochen sperrige, extrem verschiedene Personen schickt der Autor in seinem ersten Spielfilm mit autobiografischer Anlehnung auf die Reise. Den alten Vater, der in Marokko aufgewachsen und vom islamischen Glauben geprägt ist, beseelt der innige Wunsch, einmal im Leben den Hadsch, die Pilgerreise der Muslime nach Mekka, zu machen. Am liebsten ginge er zu Fuss, doch dazu ist er nicht mehr fähig. Er wählt deshalb die Autofahrt, und zwar mit dem Sohn als Fahrer: von seinem Wohnort in Aix-en-Provence nach der heiligen Stadt, die für beide zu einer intensiven Begegnung der Generationen wird.
Der Junge gehorcht, obwohl er weder Zeit noch Lust hat, den Alten zu fahren; denn er müsste seine Prüfungen wiederholen, die Freundin möchte er nicht allein lassen und für die Religion hat er eh nichts übrig. Die Konstellation der zwei Menschen im alten Peugeot scheint alles andere als verheissungsvoll. Doch die «Huit clos»--Situation (Sartre), dieses zur Auseinandersetzung-Gezwungen-Sein, lässt die beiden in Red und Gegenrede allmählich aufeinander zugehen. Schritt um Schritt nähern sie sich einander, entdecken das Eigene im Andern und es kommt zur Begegnung.
Auf dem Weg in den Orient
Traumhafte Landschaften und Städte durchreisen sie in Italien, Slowenien, Kroation, Serbien, Bulgarien, der Türkei, in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien, während sie sich hitzige Wortgefechte liefern oder vielsagend ausschweigen. Am eindrücklichsten sind die Szenen, in denen sie nur mit Blicken und Gesten kommunizieren. Auf der Reise von Westeuropa in den Nahen Osten lernen sie nicht nur den andern, sondern auch sich selbst besser kennen und verstehen. «Schliesslich regt uns nichts so intensiv zu fragen über die eigene Kultur an wie das Studium einer fremden», meint Robert Levine. Zur zwischenmenschlichen Begegnung kommen mehr und mehr die Begegnungen mit fremden Welten und Kulturen, einem Es, im Sinne von Martin Buber. Hiermit hilft der Film einfühlsam mit, Klischees und Vorurteile über den Islam abzubauen.
Existenzielle Erfahrungen
Die eine wie die andere Begegnung – jene von Mensch zu Mensch, vom Ich zum Du, und jene von Mensch zu Welt, vom Ich zum Es – bedingen eine ehrliche und intensive Arbeit. Psychologisch sind bei beiden Figuren feinste Veränderungen zu beobachten: vom mürrischen Gehorchen des Sohns, weil der Vater befiehlt, über das Abwarten und Offen-Sein, bis hin zum feinen Lächeln der beiden gegen den Schluss, nachdem sie sich näher gekommen sind.
Im weiteren Verlauf der Reise kommt es für uns Zuschauende zu zwei existentiellen Erfahrungen. Die erste machen wir bei der Ankunft der beiden Männer in Mekka in den beeindruckende Bild des erstmals in einem Spielfilm gezeigten Einzugs der zwei Millionen Pilger in die heilige Stadt: eine religiöse Erfahrung der besonderen Art. Die zweite überkommt uns beim unerwarteten Tod des Vaters am Ziel seiner Reise und seiner Träume.
Dazwischen gibt es, dezent angedeutete Zeichen dafür, was in den zwei Menschen während der Reise vorgegangen sein dürfte, was Veränderung im Leben bedeuten kann. «Le grand voyage» erzählt äusserlich eine ganz unsensationelle, gewöhnliche Reise, innerlich hingegen eine zum Urgrund des Lebens vordringende Lebensreise. «Alles Leben ist Begegnung», meint Buber: Begegnung von Ich, Du und Es, die anfänglich fremd sind und erst allmählich angeeignet, zu eigen gemacht werden können.
Zum Weiterdenken
«Le grand voyage» besticht durch die stringent erzählte Geschichte einer Begegnung zwischen Kulturen, Sprachen und Generationen, die im beliebigen Mainstream selten aufeinander treffen.» Le Temps
«Eine schöne, 5000 Kilometer lang Liebesgeschichte zwischen Vater und Sohn. Aus dem Machtkampf und den Demütigungen wächst eine neue Toleranz. Solche Lernprozesse kommen im Kino oft gähnlangweilig daher. Nicht bei Ferroukhi.» Schwäbisches Tagblatt
«Der Regisseur widersteht jeglicher ästhetisierenden Versuchung. Durch den Einsatz von Ellipsen verwischt er die Wahrnehmung von Raum und Zeit, verlagert den Fokus auf die dramatische Konstruktion und beschreibt behutsam die innere Entwicklung der Figuren.» Arte-TV
«Eine feinfühlige und lehrreiche Annäherung an den Islam.» Studio Magazine
«Der Film überzeugt durch seine Einfachheit und Klarheit, durch seine psychologische Feinheit und durch sein filmisches und schauspielerisches Kolorit, das die weite Fahrt zum spannenden Kino werden lässt.» Der Bund
Auch im Alltag auf den Weg gehen
Die Grunderfahrungen dieses Erlernens des Lebens kann man in der Kunst, so im Film «Le grand voyage», doch ebenso in der Natur und im Alltag machen: etwa auf einem Spaziergang, bei einer Wanderung oder beim Bergsteigen, bei einer Fahrt von A nach B, wenn wir diese Bewegungen verstehen als «Pantha Rhei» (Heraklit). Denn auch so verlassen wir das Alte und kommen zu Neuem, wenn wir nur unsere Sinne öffnen und sehen, hören, schmecken, riechen, tasten und immer und immer wieder fragen, fragen, fragen. Denn erst wenn wir, einer Überlegung Günther Anders folgend, die Welt erfahren, werden wir erfahren.